Lauter Janusköpfe

Wie die postkommunistischen Staaten mit dem kommunistischen Unrecht umgehen  ■ Von Gabriele Lesser

Die Deutschen lieben ihre Opfer. Und sie wollen, daß diese auch Opfer bleiben. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg so, und das ist auch heute so. In den NS-Prozessen bedauerten sie die „armen Zeugen“ und – sprachen die Täter frei. Der Unrechtsstaat DDR wird juristisch genauso bewältigt. Damals wie heute fühlten sich die Juristen dem Rückwirkungsverbot verpflichtet: „Ohne Gesetz keine Strafe“. NS-Verbrechen wurden nach NS-Recht abgeurteilt, DDR- Unrecht heute nach dem damaligen DDR-Recht. Da es bestimmte Straftatsbestände in Diktaturen nicht gibt, wie beispielsweise Übergriffe des Staates in die Privatsphäre der Staatsbürger, bleiben „Verbrechen im Amt“ ungesühnt.

Die Schwierigkeiten der Deutschen, mit der Vergangenheit eines Unrechtsstaats klarzukommen, sind aber nicht „typisch deutsch“. Das macht der Tagungsband des Kölner Osteuropa-Juristen Georg Brunner deutlich. Die „Juristische Bewältigung kommunistischen Unrechts in Osteuropa und Deutschland“ zeigt, daß alle ehemaligen Ostblockstaaten mit denselben Problemen kämpfen, sie diese aber je nach nationalem Mythos und geschichtlicher Erfahrung ganz anders lösen. Die 16 Autoren, Wissenschaftler, Richter und Botschafter, darunter zwei Frauen, analysieren in „Länderberichten“ die Situation in sechs ehemaligen Ostblockstaaten. Einen zweiten Schwerpunkt bildet die juristische Aufarbeitung des DDR- Unrechts.

Am leichtesten tun sich offensichtlich Ungarn und Rußland, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Sie beschäftigen sich nur sehr eingeschränkt mit ihrer Vergangenheit. Ungarn, weil es schon seit vielen Jahren mit einem Januskopf lebte, dessen eines Anlitz der Welt sagte: „Ich bin eine Diktatur des Proletariats“, während das andere fröhlich grinste: „Ich bin die lustigste Baracke im Sozialismus.“ Und Rußland, weil es nach wie vor in der Tradition des Etatismus lebt und die Interessen des Staates weit über die der Staatsbürger stellt.

Ungarn hat sich von innen heraus selbst reformiert: Dem Zusammenbruch des Kadar-Regimes folgte keine Revolution, es entstand nicht die für die anderen Länder charakteristische Alternative zwischen den sich ausschließenden zwei Legalitäten: der alten sozialistischen und der neuen demokratischen. Entsprechend tauchte die Frage nach der Weiterbeschäftigung von ehemals kommunistischen Funktionären im öffentlichen Dienst erst gar nicht auf. Ein Verbot wäre als absurd empfunden worden. Eine „Stasi-Problematik“ im DDR-Maßstab kannte Ungarn nicht. Dennoch wurde ein Gesetz verabschiedet, nach dem Personen in führenden staatlich-gesellschaftlichen Positionen auf eine mögliche Mitarbeit bei den Staatssicherheitsorganen überprüft werden sollen.

In Rußland machte Boris Jelzin am 6. November 1991 die Führungskader der kommunistischen Parteien für die „historische Sackgasse“ verantwortlich, „in die die Völker der Sowjetunion getrieben wurden“. Er löste die kommunistische Partei auf, doch eine strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung findet nicht statt. Die Zahl der Opfer, die in systematischen Terroraktionen zu Tode kamen, in die Gulags kamen oder als Kinder von den „politisch unzuverlässigen“ Eltern getrennt wurden, geht in die Millionen. Eine Entschädigung ist schon rein quantitativ kaum zu leisten. Immerhin verabschiedete aber die Duma ein Gesetz, das die Völker rehabilitierte, die dem „Großen Hunger“ und dem „Großen Terror“ zum Opfer fielen. Ein weiteres Gesetz rehabilitierte Einzelpersonen, die „Opfer politischer Repressionen“ wurden. Nicht unter dieses Gesetz fallen Widerstandskämpfer, die aktiv gegen den sowjetischen Staat vorgingen.

Tatsächlich Schwierigkeiten mit ihrer Vergangenheit haben nur die Gesellschaften, die auf der Suche nach einer neuen politischen Elite sind. Hoch umstritten ist die „Lustration“ daher in der Tschechischen Republik und in Polen. Doch wärend die Tschechen schon im Oktober 1991 ein „Lustrationsgesetz“ verabschiedeten und damit eine bis heute andauernde Diskussion in Gang setzten, hatte Polen das Problem immer wieder vertagt. In Tschechien hatten in den letzten Jahren immer wieder Einzelpersonen gegen den Bescheid „Agent“ oder „Informeller Mitarbeiter“ geklagt und auch recht bekommen. In Polen hingegen hatten sich die Solidarność-Regierungen auf keine Konzeption einigen können. Ministerpräsident Jan Olszewski stürzte gar über eine zu abrupte „Lustrationsinitiative“. Ein „Verräter in den eigenen Reihen“ ist für Polen unvorstellbar. Der Mythos kennt Polen als das Volk der Freiheitshelden. Daß einige von ihnen auch der Staatssicherheit zugearbeitet haben könnten, wollen die meisten Polen nicht wahrhaben. Erst die Spionageaffäre um den kürzlich zurückgetretenen Ministerpräsidenten Józef Oleksy ließ das Thema wieder akut werden.

Der Band gibt einen guten Überblick über die juristische Aufarbeitung des kommunistischen Unrechts in den ehemaligen Ostblockstaaten. Allerdings widersprechen sich die Beiträge teilweise, vor allem zu Polen, die Fußnoten sind zum Teil fehlerhaft, die Beiträge selbst stilistisch hart an der Grenze des Erträglichen.

Georg Brunner (Hrsg.): „Juristische Bewältigung des kommunistischen Unrechts in Osteuropa und Deutschland“. Berlin Verlag Spitz, Berlin 1995, 322 Seiten, 88 DM