Es ist ein Mythos mit dem Mythos

■ Musikvideos erzählen ziemlich komplexe Geschichten: Eins davon handelt in Minuten die ganze Schöpfungsgeschichte ab

Das Ohr als Pop-Organ ist ziemlich dumm, denn es läßt sich leicht erfreuen. Egal ob es sich um ein Hindu-Ohr oder um ein Harlem- Ohr handelt, überall möchte es ein und denselben Jackson hören. Damit hat man sich schon abgefunden. Seltsamer berührt es einen aber, warum sich die Produzenten so sicher sind, daß nun auch ihre so schnell geschnittenen Videoclips international erfolgreich sein könnten. Zumal sie ziemlich komplexe Geschichten erzählen.

Da weint dann Madonna beim Stierkampf über die Sublimation als Kulturleistung. Die Band H Block X liefert einem die Ödipus- Story. Und Mark O. H. handelt in wenigen Minuten die ganze Schöpfungsgeschichte ab. Das alles kostet doch Geld. Und dennoch sind sich die Produzenten sicher, daß ihre Mini-Mythen funktionieren werden.

Denn es ist ein großer Mythos mit dem Mythos. Wahrscheinlich hat ihn George Lucas erfunden. Noch in den sechziger Jahren las er die Bücher des Ethnologen Joseph Campbell, der sich sehr für Mythen interessierte. In seinem „Der Heros in tausend Gestalten“ steht zu lesen, daß alle Helden in allen Kulturen im Grunde immer nur diese eine Heldenfahrt machen und sich sozusagen nur monomythisch verhalten.

Sie alle leben zuerst nur vor sich hin. Doch im Grunde langweilen sie sich sehr. Dann werden sie plötzlich berufen. Helena wird entführt. Oder die Bank schickt die Überweisung unerledigt zurück. Schon beginnt die große Heldenfahrt. Der Heros lernt einen guten Freund kennen, der ihn auf seiner Tour begleitet, er erledigt einen bösen Dämon und stolpert dann odysseemäßig von einer Krise in die nächste, bis er fast tot ist, zumindest aber pleite.

Dann endlich kommt der „zweite Wind“ daher und bläst ihn aus dem Tal des Grauens, des Todes und des Unbewußten den Berg hinauf und zum Licht der Oberwelt zurück. So einfach ist das mit den Mythen.

Auf alle Fälle war Hollywood von dem Buch begeistert. George Lucas nahm die Heldenfahrt des Campbell als Vorbild für seinen „Krieg der Sterne“. Seitdem ist dramaturgisch gesehen kein Halten mehr. Mythen gelten vielen US-Drehbuchautoren als Grundschablone für ihre Bücher, und auch in Deutschland touren heute Campbell-Jünger wie die Drehbuchautoren Keith Cunningham und Tom Schlesinger durch die Drehbuchwerkstätten und Fortbildungskurse für Redakteure und Produzenten, um sie den Monomythos zu lehren – mit ziemlichem Erfolg, wenn man sich so rumfragt.

Und so finden sich nun auch in den Musikvideos immer mehr monodramatische Heldenfahrten, die von der Initiation eines Helden erzählen, der mit viel Schlagzeug aufbricht, seinen miesen Alltag zu zerschlagen, und dann am Ende reichlich erwachsen in die Kamera flennt oder lacht. Und immer wieder ist da ein böser Dämon der eigenen Seele oder der weißen Klasse, der Konsumgesellschaft oder der Eltern anzustaunen, der überwunden werden muß, damit der Held endlich dazu kommt, sein eigenes Leben zu leben. Und da der Held im Clip meist Sänger ist, dürfen sich die Zuschauer mit ihm freuen, daß er es einmal mehr geschafft hat, sein Pubertätstrauma zu überstehen, auch wenn er so alt aussieht wie Meatloaf. Hauptsache, sie leben „higher than life“ bis ans Ende ihres Teenage.

Das möchte man auch Jackson wünschen. Denn wenn man seine Sinnstiftungs-Videos für die Sprößlinge von heute mit dem alten Bilder-Blut von Alice Cooper vergleicht, so hat er sich bereits jetzt das FSK-Prädikat „wertvoll“ verdient, oder? Marcus Hertneck