Von Lager zu Lager

■ Für eine Viertelmillion Menschen brachte die Befreiung der KZ kein neues Leben, sondern höchste Ziellosigkeit / „Reisen ins Leben“, ein Bremer Film zum Thema auf der Berlinale

Lange Zeit, erzählt Ruth Klüger, habe sie sich gefragt, wie sie das Wunder nennen sollte, die Konzentrationslager Auschwitz und Theresienstadt überlebt zu haben. Dem „Todesmarsch“ entflohen zu sein, sich als deutscher Flüchtling auszugeben, schließlich, mit 16, nach New York auszuwandern. Dann wußte sie es. Das Wunder hatte eine chemische Formel: Adrenalin. 250.000 Menschen, Überlebende des Holocaust – der damals noch keinen Namen hatte –, irrten als Displaced Persons (DPs) im Nachkriegsdeutschland umher, ohne Ziel, teilweise über Jahre. Kaum befreit, wurden sie wieder in Lager verfrachtet, wieder stacheldrahtumzäunt. Zu ihrem Schutz, sagt man den DPs, nun im Frieden. Bis 1948 blieb die große Hoffnung, ein neues Leben anzufangen, meist Utopie, weil illegal: Israel hieß noch Palästina, stand unter britischem Mandat. „Illegale“, wie sich die Flüchtlinge Richtung Heiliges Land selbst nannten, wurden von britischen Schiffen bei der Überfahrt abgefangen.

„Reisen ins Leben“ heißt die Dokumentation von Thomas Mitscherlich, die auf den morgen eröffneten Berliner Filmfestspielen zu sehen sein wird. Reisen ins Leben deshalb, erklärt Yehuda Bacon, einer der drei Porträtierten, weil gemeinhin das Leben zum Tode sich neige; das ihre, todgeweihte, hingegen sollte eigentlich nach der Befreiung der Lager neu beginnen. Ein Trugschluß: „Was danach kam, war fast noch schlimmer“, sagt Gerhard Durlacher, der mit 15 Jahren nach Theresienstadt kam und mit 17 nach Holland zurückkehrte.

Holland, Israel, die USA – drei Länder, wo drei Menschen mit – ungewollt – tragisch-wechselvollem Schicksal sich behaupten müssen. „Am Ende hatten wir über 100 Menschen, deren Biographien alle interessant sind. Auszuwählen fällt schwer“, sagt Barbara Johr, Assistentin von Regisseur Mitscherlich und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bremer Institut Film/Fernsehen, das den Film produziert hat. Dramaturgisch eingefaßt hat Mitscherlich die Aussagen der drei Porträtierten durch Archivmaterial alliierter Kameramänner, die etwa die Schrecken der Lager ebenso dokumentieren sollten wie die Reaktionen der Deutschen darauf, die – Taschentuch vor dem Mund – von den Amerikanern durch die geöffneten KZ geschleust werden.

Mayflower nennt Mitscherlich jenen amerikanischen Kameramann im Film, der heute unterwegs ist zu dem Ort, wo er einst Dwight D. Eisenhower zu filmen hatte. Ohrdruf bei Gotha, ein Lager, dessen Name in Vergessenheit geraten ist. Wo zu DDR-Zeiten russische Panzer die verscharrten Leichenberge planierten und heute die Bundeswehr übt. Weitgehend unveröffentlicht ist das Archivmaterial in „Reisen ins Leben“. Und teilweise farbig. Nur wenn es besonders wichtig wäre, mahnte das Pentagon seine Kameramänner, sollten sie doch in Farbe drehen, das Material sei knapp. Die Vorgaben der Auftraggeber: Individuen von vorne und in Aktion filmen, keine Propaganda, aber doch Bilder „like Hollywood“. Bilder von soeben befreiten Häftlingen, von Flüchtlingen auf der Landstraße, von anderen Kameramännern mit demselben Auftrag wie Mayflower – alles in Farbe.

Mayflower hat es nie gegeben. Er steht für die Summe der Recherchen, die Barbara Johr über alliierte Kameramänner gemacht hat. Eine fiktive Figur, die doch die Quintessenz enthält von dem, was amerikanische Kamermänner gefühlt und gedacht haben mögen, als sie im zerstörten Deutschland unterwegs waren, mit allen Privilegien ausgestattet. Aus diversen Archiven stammen die hochwertigen Archivaufnahmen in „Reisen zum Leben: u.a. aus dem Steven Spielberg Jewish Film Archive in Jerusalem und dem National Center for Jewish Film in Boston.

Den Kontakt zu den in alle Welt verstreuten Überlebenden stellte der mittlerweile verstorbene Hermann Langbein her. Der Spanienkämpfer und Nichtjude Langbein war Schreiber des SS-Standortarztes und genoß „hohes Ansehen, weil er sich nie durch seinen Posten korrumpieren ließ“, so Barbara Johr.

Gemeinsam ist den Aussagen von Ruth Klüger, heute Literaturwissenschaftlerin und Autorin in Irvine/Californien und Göttingen, Gerhard Durlach (Soziologe und Schriftsteller in Haarlem) und Yehuda Bacon (Maler und Hochschullehrer in Jerusalem) eines: die Enttäuschung, als – lebende, Zeugnis gebende – Holocaust-Opfer nicht ernst genommen zu werden, nur dann opportun und gefragt zu sein, wenn die Politik es gerade erfordert. Und: nur mit Mühe oder durch Zufall eine neue Staatsbürgerschaft erlangt zu haben.

Ruth Klüger bringt es auf den Punkt: „Wenn ich als Überlebende über den Holocaust spreche, wird das als Obszönität bewertet.“

Alexander Musik