Das Geiseldorf wird nachts zum Geisterdorf

Perwomaiskoje wurde von der russischen Armee zerbombt, zerschossen. Jetzt bauen die Bewohner ihren Ort wieder auf – über allem liegt Verwesungsgeruch  ■ Von Andrej Kolesnikow

Zehn Kilomter vor Perwomaiskoje werden wir am Kontrollpunkt angehalten. Keiner hat Lust auszusteigen. Es ist kalt, und wir haben uns auf der zweistündigen Fahrt von Machaschalka gerade erst ein wenig aufgewärmt. Dann steigen wir doch aus.

„Nach Perwomaiskoje? Wollt ihr wirklich...?“ fragt der Posten bestürzt. „Dann laßt mal sehen!“ Wir greifen nach unseren Papieren. Der Posten wird noch trauriger und fragt, ob wir etwas zu rauchen haben. Mein Gefährte Nail hält ihm ein Feuerzeug hin. Der Soldat freut sich. „Oh, mit Kerosin! So eins habe ich bei Ausländern gesehen. Kann ich es haben?“ fragt er und tritt verlegen von einem Bein auf das andere. Kann man da noch nein sagen? „Ich heiße Hussain“, sagt er erleichtert und deutet an, daß die Formalitäten erledigt sind. „Übernachten könnt ihr bei mir. Kennt ihr den Weg nach Perwomaiskoje? Wollt ihr da wirklich hin? Wißt ihr eigentlich, wie viele Leichen da herumliegen?“ fragt er. Wir wissen es nicht.

Der Weg von Sowetskoje nach Perwomaiskoje – drei Kilometer Dreck. Links und rechts erstrecken sich die Felder, wo die Truppen in Stellung lagen. Jetzt herrschen hier die Jungen aus den Nachbardörfern und untersuchen, was die Soldaten dagelassen haben. Sie kichern aufgeregt. Einer von ihnen zieht unter seinem Hemd einen Beutel mit Munition hervor und gibt ihn uns. Wir betrachten den Beutel und geben ihn wieder zurück. Er schüttelt den Kopf und läuft weg. Von weitem winkt er. Ein Geschenk.

Ein anderer, ungefähr zwölf Jahre alt, bleibt stehen. Er erzählt, was sie hier in den letzten zwei Tagen gefunden haben, und zeigt uns eine intakte Mine. Er ärgert sich, daß er wohl etwas übereilt ein Maschinengewehr gekauft hat. 800.000 Rubel hat er dafür bezahlt. Woher er das Geld hat, fragen wir. „Ich bin Bauer“, sagt er stolz und lacht. Er bedauert, daß es keine Patronen gibt. Als er das Gewehr kaufte, hat er sie vergessen. Die Soldaten haben ihm welche versprochen, doch als der Angriff begann, haben sie wohl nicht mehr daran gedacht.

Wir fahren weiter. Kurz hinter dem Dorf kommen uns zwei Männer mit Gewehren entgegen. Unser Fahrer tritt verzweifelt aufs Gas. Zu spät. Der Wagen hat sich festgefahren. Die beiden Männer schlagen vor, den Wagen anzuschieben. Wir schieben und unterhalten uns. Unsere Helfer sind aus Sowetskoje und gerade von der Hasenjagd zurückgekommen. Ihr ganzes Leben haben sie hier gejagt, und es gibt keinen Grund, das nicht auch jetzt zu tun. Die Jagd war erfolglos, nicht einen Hasen haben sie gesehen. Dafür haben sie einige Leichen gefunden. Ein Toter, sagen sie, sitzt unter einem Baum, so als ob er sich ausruht.

Wir erreichen Perwomaiskoje. Ein Chaos ohnegleichen. Kein Haus ist unversehrt, nicht ein einziges. Ruinen. Überall wimmelt es von Menschen, die irgend etwas unter den Trümmern suchen. Starker Leichengeruch kriecht in die Nase. Der gleiche Geruch strömt auch aus den Schützengräben, die das ganze Dorf durchziehen. In die Nähe der Gräben traut sich niemand. Alle haben Angst, daß sie vermint sind. Überall liegt totes Vieh.

Plötzlich kommt uns eine quicklebendige Kuh entgegen. Wir freuen uns, wie die Kinder aus der „Milky Way“-Reklame. Da bemerken wir, daß aus ihrer Stirn ein riesengroßer Splitter herausguckt. „Sie hat eine eine Mine abbekommen“, erzählt eine Frau. Offensichtlich hat die Stirn das ausgehalten. Das ganze Dorf kommt gucken und kann es nicht glauben. „Sie muß jeden Moment kalben, so seht doch!“ Wir sehen es. Die Kuh läuft indessen ruhig weiter. In Perwomaiskoje ist sie jetzt eine bedeutende Person.

Die Moschee, im Zentrum des Dorfes, ist völlig zerstört. Hier versammeln sich die ehemaligen Dorfbewohner, um die letzten Neuigkeiten auszutauschen. Die Hauptnachricht ist, wie schon in den Tagen vorher, daß bis auf einen alle Bewohner von Perwomaiskoje am Leben geblieben sind. Ein Wunder. Gegenüber der Moschee befindet sich das zerstörte Haus des Imams. Und im Hof liegt, völlig unversehrt, die Kuppel der Moschee. Auch ein Wunder. Zuerst dachten wir, daß eine Explosionsdruckwelle die Kuppel in den Hof geschleudert hätte. Später stellt sich heraus, daß die Einwohner nur noch keine Zeit hatten, die Kuppen zu installieren.

Die Leute vor der Moschee stehen um einen Mann herum. Er stellt sich vor: Jakub Magomedow, Untersuchungsrichter bei der Staatsanwaltschaft der Republik Dagestan. Er wartet auf Hilfskräfte, Tierärzte und Pioniere. Offensichtlich hat der Richter am Vortag im Fernsehen ein Interview gegeben, in dem er gesagt hat, daß die Einwohner von Perwomaiskoje gegen den russischen Präsidenten klagen sollen. Denn dieser habe sie beleidigt, als er sagte, daß die Bewohner des Dorfes den Rebellen freiwillig geholfen hätten. Das hat die Menschen in Perwomaiskoje schwer getroffen. Und nicht weniger beleidigt sind sie, weil dieses Stück des Interviews dann nicht gesendet wurde. Alle freuen sich, als sie erfahren, daß in den nächsten Tagen 300 Waggons im Dorf aufgestellt werden sollen, wo sie zunächst unterkommen können. Dagestan wird für jeden Waggon 27 Millionen Rubel bezahlen.

Der Untersuchungsrichter wird nervös. Von den Tierärzten ist nichts zu sehen, und auch die Pioniere sind noch nicht da. Es kommen immer mehr Leute und berichten von unerträglichem Verwesungsgestank. An einer Stelle ist er so stark, daß die Einwohner selbst angefangen haben, die Trümmer beiseite zu räumen. Sie finden einen Kopf, dann einen Arm und ein Bein. Einige laufen zur der Stelle hin. Es sind Bewohner von Kisljar, die hier in Perwomaiskoje nach ihren Verwandten suchen. Einer von ihnen fällt wie vom Schlag getroffen zu Boden. An einem Jackenärmel hat er seinen Bruder erkannt. Die anderen heben ihn auf und zwingen ihn, noch einmal genau hinzusehen. Es war kein Irrtum: zwei Goldzähne, oben rechts.

Ein Junge erzählt, daß zwei Tschetschenen gekommen sind. Die Menge setzt sich in Bewegung. Die beiden alten Männer stammen aus dem Nachbardorf. Die Menge umringt sie und schweigt. Die Tschetschenen entschuldigen sich bei ihren Nachbarn und sprechen ihr Mitgefühl aus. Sie sagen, daß es besser gewesen wäre, wenn Radujew die Geiseln in ihr Dorf gebracht hätte, aber man habe ihn ja nicht gelassen. Die Menge schweigt. Die alten Männer sagen, daß die Bewohner, die ihr Haus verloren haben, zu ihnen ins Dorf ziehen können. „Wir haben alle kein Haus mehr“, sagt einer. „Wir können alle aufnehmen.“ „Ihr wißt ganz genau, daß wir nicht zu euch gehen“, entgegnet ein anderer. „Warum seid ihr gekommen?“ „Wir wollen helfen.“ „Danke!“ Die beiden alten Männer gehen.

Jemand flüstert dem Untersuchungsrichter etwas ins Ohr. Der sieht uns an: „Unsere Milizionäre haben ein Lager mit Waffen gefunden. Habt ihr ein Auto?“ Wir haben eins. Die angegebene Richtung stimmt. Zwei Kilometer weiter stoßen wir auf das Vorratslager. Im Gebüsch, neben einem Wassergraben, ist eine Grube ausgehoben. Sorgfältig in mehreren Reihen angeordnet, liegen da Munition und Waffen, die die russischen Soldaten aus irgendeinem Grund hiergelassen haben. Zündkapseln, Geschosse und sonstiges Zubehör – ein reiches Arsenal. Die dagestanischen Milizionäre verstauen alles im Wagen.

„Nur gut, daß hier keine Kinder in der Nähe sind“, sagt einer von ihnen. „Und was ist das da?“ fragt ein anderer Milizionär. Von der gegenüberliegenden Seite des Grabens nähern sich zwei siebenjährige Jungen. „Kommt mal her!“ schreit der Milizionär. Die Jungen springen über den Graben. Mehrere Dutzend ausgebrannte Sprengköpfe von Leuchtraketen halten sie an sich gepreßt. Ihre Mütter haben sie hierhergeschickt, um danach zu suchen. „Ihr werdet uns jetzt helfen, die Waffen zu verladen, das ist ein militärischer Befehl, verstanden?“ sagt der Milizionär. Die Jungen sind begeistert.

Wir kehren ins Dorf zurück und stoßen auf eine kleine Gruppe von Menschen. Sie laufen aufgeregt um ein Auto herum. Der Wagen ist ganz verbeult und total durchlöchert.

Einer ist der Besitzer des Wagens. Er weint. „Mein Hund ist hiergeblieben, als wir alle das Dorf verlassen mußten. In dem Durcheinander habe ich ihn verloren. Gestern bin ich zurückgekehrt. Mein Haus ist zerstört und das Vieh tot. Und als ich heute wieder hierherkomme, höre ich unter dem Wagen so ein Stöhnen. Ich sehe nach – da liegt er. Die ganze Zeit während der Angriffe hat er sich unter dem Auto versteckt. Und er hat nichts zu fressen gehabt. Jetzt ist er so schwach, daß er da allein nicht rauskommt.“

Endlich rollen die Männer den Wagen zur Seite, der Hunde wird befreit. Er winselt dankbar und versucht aufzustehen. Es geht nicht. Jemand hat ein Stück Fleisch gefunden und legt es ihm hin. Er rührt nichts an und probiert noch einmal, aufzustehen. Dieses Mal klappt es. Seine Beine zittern, er macht einen Schritt auf seinen Herrn zu und fällt wieder um.

Abdurachman treffen wir in der Nähe seines ehemaligen Hauses, ganz am Rande des Dorfes, nur zehn Meter von den ehemals vordersten Stellungen der Soldaten entfernt. Wir sind nicht zufällig zu ihm gekommen. Wir kennen seine Geschichte schon, aber jetzt erzählt er noch einmal alles genau. Abdurachman blieb in seinem Haus, als am 9. Januar alle Bewohner Perwomaiskoje verließen.

Alle gingen, er aber blieb, um das Vieh zu versorgen. Dann hob Abdurachman im Hof seines Hauses einen kleinen Graben aus und versteckte sich dort. Nachts kroch er hinein, bedeckte sich mit mit einem Stück Blech und blieb bis zum Morgen. Es war schrecklich kalt. Dann begannen sie zu schießen. Abdurachmans Haus wurde zerstört. Seiner Kuh passierte nichts. Er packte ein paar Dinge ein und ging in die Moschee. Dort war er kein Unbekannter. Denn in Abwesenheit des Imams riefen sie den Bauern oft, um das Gebet zu lesen. Deshalb wußte er auch, daß die Moschee einen gutgeschützten Keller hatte. Hier blieb er auch noch, als der Angriff seinen Höhepunkt erreichte. Aber es gefiel ihm nicht, daß die Rebellen acht ihrer getöteten Kameraden aus Kisljar dorthin brachten.

Dann wurde auch die Moschee beschossen. Gleich nach dem ersten Volltreffer begann sie zu brennen. Der alte Mann lief zum Haus seines Sohnes. Dort entdeckte er drei Geiseln die von den Rebellen bewacht wurden. Adurachman fragte, ob sie ihn auch als Geisel wollten. „Nein Alter“, sagte einer, „mach, was du willst! Hier kommt sowieso keiner mehr lebend raus.“

Der alte Mann zog bei seinem Sohn ein. Dann begann der Sturmangriff. Die Geiseln wurden weggebracht. Am nächsten Morgen wurde das Haus getroffen und brannte aus. Ihm passierte wieder nichts. Doch jetzt konnte Abdurachman nirgends mehr hingehen. Er fand einen weißen Stoffetzen und lief direkt auf die Straße. Das war am letzten Tag des Angriffs. Jetzt will er nirgendwo hingehen, er muß doch das Vieh versorgen, sagt der alte Mann. Aus der Ukraine ist sein Sohn gekommen. Doch Abdurachman will nicht zu ihm fahren. „Aber Vater, du hast doch kein Haus mehr!“ schreit der Sohn. „Wir bauen ein neues“, sagt Abdurachman.

Es ist Abend, in Perwomaiskoje ist niemand mehr. Alle übernachten in den Nachbardörfern. Wir fahren zurück nach Chasawjurt. „Na, habt ihr ein paar Leichen gefunden?“ fragt Hussain am Kontrollpunkt. „Du Hund!“ sagt Nail und erinnert sich wohl an das Feuerzeug. „He, was soll das? Steigt sofort aus!“ Nach anderthalb Stunden dürfen wir weiterfahren.

Die Reportage erschien zuerst in der Wochenzeitung „Moskowskie Nowosti“