Bewußte Grenzüberschreitungen

Phänomenologie der menschlichen Eingriffe: Hansjörg Köster studiert die „Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa“ und zeigt, daß es eine unberührte, „heile“ Natur nie, Differenzierung des Bodens jedoch immer gegeben hat  ■ Von Kolja Mensing

Die ersten Umweltverschmutzer lebten in der Eisenzeit – gute 2500 Jahre, bevor die Ökologen des ausgehenden 20. Jahrhunderts einen Namen für die Sache fanden. Schon damals forderte der Fortschritt, in diesem Fall die Herstellung von besserem Werkzeug, seinen Tribut: Der Abbau und die Weiterverarbeitung der Eisenerze belasteten den Boden mit Schwermetallen. Nur wenige widerstandsfähige Pflanzen überlebten im Umkreis der frühzeitlichen Industriezentren – das zitronengelbe Galmeiveilchen bestimmt beispielsweise bis heute das Bild verlassener Erzbergwerke.

Hansjörg Küsters Buch über die „Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa“ relativiert so manche aus der Ökokrise geborene Ansicht. Das schwärmerische „Zurück zur Natur“, daß viele Umweltschützer der bedrohlichen Entwicklung der Industriegesellschaft entgegensetzten, erweist sich in Küsters Perspektive als schlichtweg unhistorisch: Eine unberührte, „heile“ Natur hat es nie gegeben, zumindest seit der Mensch in ihr herumstapft.

Küsters zentrales Anliegen ist es, zu zeigen, daß der Mensch schon von Anfang an Landschaft aktiv beeinflußt hat. Landschaftsgeschichte schreiben heißt, eine Geschichte der Wechselwirkung zwischen dem Menschen und seinen äußeren Bedingungen zu rekonstruieren. Klar bezieht der Autor damit Position im Schlagwortspiel um Natur- und Kulturlandschaften. „Natürlich“ war die Natur nur, solange es den Menschen noch nicht gab. Spätestens für die Jungsteinzeit, die im fünften Jahrtausend vor Christi in Mitteleuropa begann, läßt sich nachvollziehen, wie aus Natur Kultur wurde. Mit den ersten Formen des Ackerbaus veränderte der Mensch das Erscheinungsbild der vorher dicht bewaldeten Landschaft: Felder und Gärten, Hütten und Wege brechen den Wald auf. Kulturlandschaft, so definiert Küster, ist differenzierte Landschaft.

Der Forstwissenschaftler und Biologe Küster will provozieren. Er stellt der ökologisch-moralischen Position eine chronologische Bestandsaufnahme der Landschaftsgeschichte entgegen. Der Mensch überschreitet in seinem Umgang mit der Landschaft beständig ökologische Grenzen – er schafft neue Ausgangsbedingungen in seiner Umgebung.

Es schadet gar nicht, daß Küster seine Untersuchung irgendwann im menschenleeren Präkambrium beginnen läßt. Sein Blick ist, wenn er sich auf wenigen Seiten durch die Erdgeschichte bis zum Auftritt des Homo sapiens schreibt, stets auf die Bedingungen gerichtet, die der Mensch einmal in Mitteleuropa vorfinden wird.

Mit dem Begriff der Grenze bringt Küster das Verhältnis von Mensch und Kulturlandschaft auf den Punkt. Da sind die Grenzen, die der Mensch der Landschaft in dem lang andauernden Prozeß der Ausdifferenzierung aufprägt. Zum Beispiel zwischen Weideland und Wald: Sie können erst nach Ausgang des Mittelalters deutlich unterschieden werden, als der Zusammenschluß kleinerer im Wald gelegener Weideflächen zu großen, baumlosen Flächen das Ende gemeinschaftlicher Dorfstrukturen – der Allmende – einläutete.

Auch die norddeutsche Küstenlandschaft erlangte ihr heutiges Bild erst durch bewußte Grenzziehung: Im Hochmittelalter waren die BewohnerInnen der Marschen gezwungen, Ackerbau zu betreiben, da sie von den Fischhandelswegen ausgeschlossen wurden. Um Land zu gewinnen, brachten sie die zerklüftete Küste, an der Meer und Land fast unmerklich ineinander übergingen, mit Deichen auf Linie. Eine Grenzziehung zog immer weitere nach sich. Vor den Deichen schichtete das Meer Schlick auf – potentiell fruchtbarer Ackerboden, der irgendwann ebenfalls eingedeicht wurde. Ein Pyrrhussieg über die Natur: Die ausgetrockneten und abgesunkenen Marschäcker waren dem Salzwasser der Sturmfluten, vor denen mancher Deich kapitulieren mußte, rettungslos ausgeliefert.

Der Mensch zieht in der Landschaft Grenzen. Gleichzeitig ist er als einziges Lebewesen in der Lage, seine ökologischen Grenzen zu überschreiten. Eine Fähigkeit, der in der Eisenzeit nur das eine oder andere Blümchen zum Opfer fiel, die sich in den letzten zwei Jahrhunderten jedoch zu einem existentiellen Problem der Menschheit entwickelt hat.

Der letzte Teil des großzügig bebilderten Buches dokumentiert die Eingriffe, die das Bild der Landschaft radikal veränderten. Auf die gewaltigen Aufforstungsprojekte im 19. Jahrhundert durch die deutschen Staaten, die den Wald zu einer politischen Frage machten, folgen die Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion und vor allem der in Deutschland verspätet einsetzende Take-off der Industrialisierung. Massive Umweltverschmutzung stellt die Lebensbedingungen des Menschen zunehmend in Frage.

„Landschaft“ wird jetzt verstanden als der Raum, den die Industrie noch nicht besetzt hat. Und diese neue „Landschaft“ unterscheidet sich radikal von dem, was seit frühester Zeit in Mitteleuropa unveränderlich geblieben war: Kunstlandschaften entstehen durch Autobahnen, Eisenbahnstrecken oder riesige Agrarflächen. Überproduktion und Betonisierung bestimmen das Bild der Landschaft im 20. Jahrhundert.

Die letzte Grenze scheint überschritten. Die Fakten, die Küster auf seinem Weg durch die Landschaftsgeschichte gesammelt hat, ordnen sich zu einem Prinzip, das nicht gerade ermutigt: Ein Zurück zu alten Zuständen gibt es nicht – war ein Deich gebaut, mußten andere folgen. Küster gibt sich nüchtern und distanziert wie ein Arzt, seine pathologischen Beobachtungen ordnen sich jedoch nicht zu einer pessimistischen Diagnose. Küster beläßt es bei der Verfallserzählung und hofft auf Sachverstand bei Therapiemaßnahmen.

Das grundsätzliche Problem, das sich aus seiner Darstellung ergibt, spricht er nicht an: Daß eine anthropologische Grundkonstante – die permanente Grenzüberschreitung des Öko-Bezwingers Mensch – überdacht werden muß. Die junge Debatte um die Landschaftsgeschichte hat noch viel vor sich.

Hansjörg Küster: „Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart“. C.H. Beck Verlag 1995, 424 Seiten, geb., 78 DM.