Häuserkrieg verschoben

Weil den Mietern im Osten seit Januar wegen Eigenbedarfs gekündigt werden kann, fürchten viele eine Wessi-Invasion. Doch die bleibt noch aus  ■ Von Christoph Seils

Falkensee/Berlin (taz) – Der Westberliner Wasserbau-Ingenieur konnte es gar nicht abwarten. „Nachdem der Zustand der Rechtsunsicherheit durch den Gesetzgeber beendet worden ist“, schrieb er am 22. 12. vergangenen Jahres an Familie Just in Falkensee, „kündige ich Ihnen das Mietverhältnis zum 1. 1. 1996.“ An diesem Tag war der besondere Kündigungsschutz für die Mieter in den neuen Bundesländern ausgelaufen. Seit dem 1. Januar dürfen Vermieter ihren Mietern auch im Osten der Republik wegen Eigenbedarfs kündigen. Und in Einfamilienhäusern mit Einliegerwohnungen, die teilweise vom Eigentümer genutzt werden, ist die Angabe eines Kündigungsgrundes überhaupt nicht mehr erforderlich.

Der Deutsche Mieterbund sah deshalb schon eine Kündigungswelle auf die neuen Bundesländer zukommen. 500.000 Mieter seien akut gefährdet, hieß es noch kurz vor Jahreswechsel. Selbst seriöse Zeitungen sahen vor allem in den Brandenburger Gemeinden rund um Berlin einen Ost-West-Häuserkrieg heraufziehen. Und als sich Mitte Januar in Dahlewitz, am östlichen Stadtrand von Berlin, ein 38jähriger Familienvater nach der Kündigung durch den West-Vermieter erhängte, war nicht nur für das Neue Deutschland der Grund wasserklar: „Westvermieter warf Familie aus dem Haus“. Doch nicht die Eigenbedarfskündigung eines Alteigentümers trieb den dreifachen Vater in den Selbstmord, sondern, wie sich herausgestellte, die hohen Mietschulden.

Der Häuserkampf findet lediglich vereinzelt statt. Bislang gab es in den neuen Ländern einige hundert Eigenbedarfskündigungen, schätzt der Ostbeauftragte des Deutschen Mieterbundes Jost Rieke. Etwa 200 von ihnen sollen es im sogenannten Berliner Speckgürtel gewesen sein, schätzt der Mieterbund Brandenburg.

Zum Synonym für die befürchtete Verdrängung von armen Ossis durch reiche Wessis ist der kleine Ort Kleinmachnow bei Berlin geworden. Weil die Aufregung dort so groß ist, wird sich heute Bundesbauminister Klaus Töpfer vor Ort informieren. Knapp die Hälfte des Wohnungsbestandes sieht man dort bereits fest in Westlerhand. Doch Eigenbedarfskündigungen hat es in diesem Jahr erst etwa 35 bis 40 gegeben. Der Geschäftsführer der „Vereinigung der Mieter, Nutzer und selbstnutzenden Eigentümer von Potsdam und Umgebung“, Matthias Blunert, meint, daß man schon von einer „Welle“ reden könne, schließlich seien dies mehr Eigenbedarfskündigungen als in einem Jahr in der Großstadt Karlsruhe.

In Falkensee, westlich von Berlin-Spandau gelegen, sah Bürgermeister Jürgen Bigalke sogar bis zu 5.000 Einwohner zukünftig auf der Straße sitzen. Doch in der „Gartenstadt“ mit 23.000 Einwohnern gab es es bisher nur 20 Kündigungen. Natürlich ist jede einzelne Kündigung ein „Skandal“, sagt Werner Burmann, Vorsitzender der Mietervereinigung Osthavelland. Daß sie aber „noch kein brennendes Problem“ sind, räumt selbst er ein.

Die Verdrängung vollzieht sich schleichend. Spätestens wenn Ende 1997 in den neuen Bundesländern das Vergleichsmietensystem eingeführt wird, vermutet Burmann, könnten viele der Mieter gezwungen sein, ihre Häuser zu verlassen. Ganz ohne Eigenbedarfskündigung, allein deshalb, weil die Mieten für viele unbezahlbar werden. In neu errichteten oder modernisierten Eigenheimen sind Quadratmetermieten von über 25 Mark schon jetzt eher die Regel als die Ausnahme.

Vor dem zweiten Weltkrieg war das Siedlungsgebiet Falkensee quasi ein Vorort von Spandau. Hier wohnte, wer es sich leisten konnte, aus der Stadt heraus in ein kleines Häuschen im Grünen zu ziehen. Heute liegen auf etwa 60 Prozent der Häuser Restitutionsansprüche oder sind bereits an die Alteigentümer aus dem Westen oder deren Erben rückübertragen.

Mit einem Blick in die Immobilienteile der Berliner Sonntagszeitungen läßt sich der Grund für die ausgebliebene Kündigungswelle genauso erfahren wie mit einem Spaziergang durch das Städtchen. Reihenweise stehen jetzt Häuser und Wohnungen leer. Wie Sauerbier bieten Makler sie derzeit zum Verkauf an. Auf dem Immobilienmarkt im Brandenburger Umland ist das Angebot wesentlich größer als die Nachfrage.

Nur Sozialwohnungen sind nicht zu haben. 1.300 Falkenseer suchen mit Wohnberechtigungsschein eine Wohnung, den Zusatz „Dringlichkeit“ erhalten gekündigte Mieter erst, wenn sie mit einer Räumungsklage auf dem Wohnungsamt erscheinen.

Rita Just, die Ende Dezember gekündigte Falkenseeerin, vermutet, daß „ihr“ Wessi den Eigenbedarf nur vorgetäuscht habe, denn in den letzten Monaten hätten sich mehrere Kaufinteressenten das Haus angesehen. Dennoch denkt die 57jährige ans Ausziehen. Ihr Vermieter habe die Kündigung, weil schon im Dezember erfolgt, zwar nicht „ordnungsgemäß“ ausgesprochen, sagt sie, aber er tue jetzt alles, um der Familie das Leben unerträglich zu machen. Die Heizung kann nur noch gedrosselt gefahren werden, überall zieht es durch undichte Fenster. Risse in den Wänden lassen erahnen, daß nur eine Totalsanierung das Haus retten kann.

Vielleicht findet sie im Westberliner Nachbarbezirk Spandau eine neue Wohung. Denn dort gibt es nicht nur ein größeres Angebot an Sozialwohnungen, sie sind pro Quadratmeter sogar zwei bis drei Mark billiger. Während es also die Westberliner ins Umland zieht, müssen die Ossis im Westteil der einstigen Frontstadt auf Wohnungssuche gehen.