Länger arbeiten ist human

■ Norbert Blüm bezeichnet Reform der Rentenregelung als Beitrag zur „Humanisierung der Arbeit“. Arbeitgeberpräsident Murmann lobt Anhebung des Rentenalters

Bonn (taz) – In Bonn war man sich gestern überraschend einig: Bundesregierung, Gewerkschaftsvertreter und Arbeitgeber lobten ihre am Vorabend getroffene Vereinbarung über die Reform der Rentenregelung. Danach sollen Beschäftigte ab 55 Jahre weiter in den Genuß der Frühverrentung kommen können. Für sie gilt die sogenannte „Vertrauensschutzregelung“ – vorausgesetzt, sie haben bis gestern eine entsprechende Vereinbarung mit ihrem Betrieb getroffen. Für alle anderen Arbeitnehmer ab 55 Jahre soll die Möglichkeit der Teilzeitarbeit attraktiver gestaltet werden. Die Teilzeitregelung sieht vor, daß Arbeitnehmer 50 Prozent ihres bisherigen Entgeltes vom Arbeitgeber erhalten. Zusätzliche 20 Prozent werden von der Bundesanstalt für Arbeit dazugezahlt, wenn der Arbeitgeber im Gegenzug Arbeitslose oder Lehrlinge neu einstellt. Beschlossen wurde außerdem, die Altersgrenze für Vollrente schrittweise bis 1999 von 60 auf 63 Jahre anzuheben.

Ein ganz besonderes Lob für den erzielten Kompromiß hatte Norbert Blüm bereit: Er sei ein „Beitrag zur Humanisierung der Arbeit“. Blüm verwies darauf, daß die getroffene Regelung einen gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in die Rente ermögliche. Arbeitslosen werde der Wiedereinstieg ins Berufsleben erleichtert. Die Neuregelung verhindere, daß die Rentenkasse ausblute: Schon von 1998 an werde sie vor allem durch Abschläge bei der Frührente mit 540 Millionen Mark entlastet. Im Jahr 2003 werde diese Entlastung auf 16,9 Milliarden Mark gestiegen sein, prophezeite Blüm.

Kritik übte dagegen SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler. Er lobte zwar die Vertrauensschutzregelung, fürchtet aber, daß die Gewerkschaften dafür „einen hohen Preis bezahlen müssen“. Bei dem Arbeitsteilzeitmodell rechnet er mit „keinem nennenswerten Erfolg“, denn noch fehle jedes konkrete Angebot der Arbeitgeber für Teilzeitarbeit.

Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Dieter Schulte, betonte, es sei wichtig, daß die Gewerkschaften ihre Forderung nach Vertrauensschutz für Arbeitnehmer ab 55 hätten durchsetzen können. Auch IG-Metallchef Klaus Zwickel äußerte sich „zufrieden“, mahnte aber, daß für die erfolgreiche Umsetzung des Teilzeitarbeitsmodells viel „sozialpolitische Fantasie“ benötigt werde. Der Chef der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG), Roland Issen, versicherte, die Gewerkschaften würden sich bemühen, die Einkommenseinbußen durch Teilzeitarbeit durch Tarifregelungen „zu beseitigen oder zumindest zu minimieren“. Der Vorsitzende der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Herbert Mai, forderte die öffentlichen Arbeitgeber auf, bei der Umsetzung des Teilzeitarbeitmodells eine Vorreiterrolle zu übernehmen. Arbeitgeberpräsident Klaus Murmann hob hervor, daß durch die Einsparungen in der Rentenversicherung weitere Erhöhungen der Lohnnebenkosten vermieden würden. Daß die Altersgrenze auf 63 angehoben wird, ist für ihn „ein Mordsschritt – größer, als die meisten erwartet haben“.

Karin Nink Tagesthema Seite 3