Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt

■ "Die blöde Schwuchtel hat Aids": "Mississippi - Fluß der Hoffnung", ein Film von Peter Horton, erzählt die Geschichte vom elfjährigen aidskranken Dexter, ohne ein Heulfilm zu sein. Enstanden ist

„Soviel ich weiß, hat noch keiner erforscht, ob in Schokoriegeln ein Mittel gegen Aids ist. Also, iß!“ Erik hat sich – frei nach „Karlsson vom Dach“ – für seinen Freund, den elfjährigen Dexter, eine Süßigkeitentherapie ausgedacht. Doch Dexter ist seit einer Bluttranfusion HIV-positiv, und Süßigkeiten helfen da genausowenig wie Tees aus Sumpfpflanzen, die die beiden Freunde am schlammigen Ufer des Mississippis sammeln.

„Mississippi – Fluß der Hoffnung“ ist kein Film, der auf die Tränendrüse drückt. Nicht gerade einfach beim Thema „Kinder und Aids“. Im Gegensatz zu Jonathan Demmes „Philadelphia“, mit dem die Immunschwäche zum Hollywood-Material wurde, gibt es in einem Kinder- und Jugendfilm nicht die Möglichkeit, über Gerichtssaalszenen und „civil rights“-Pathos dem Zuschauer zuweilen einen Standpunkt jenseits purer Betroffenheit zu ermöglichen. Statt dessen versucht Peter Horton, der nach Rollen in „Singles“ und der Serie „Die besten Jahre“ ins Regiefach übergewechselt hat, in seinem Film einen leichten Zugang zum schweren Stoff. Der Alltag in der Kleinstadt, die Träume und Streiche zweier elfjähriger Jungen, der Fluß, der immer wieder zum Ausbruch reizt – Zutaten einer echten amerikanischen Erzählung in der Tradition Mark Twains.

Dexter und Erik machen sich aufgrund einer Schlagzeile in einem Boulevardblatt auf die Suche nach einem Wunderheiler am Mississippi. Wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn beginnen sie ihre Fahrt auf einem Floß. Ein paar mürrische Hippies nehmen sie auf ihrem Motorboot weiter in Richtung New Orleans mit. Als Dexter und Erik merken, daß der Kapitän die Fahrt doch recht zögerlich angeht, klauen sie ihm Geld, um mit dem Bus weiterzureisen – eine aufregende Verfolgungsjagd beginnt. Während der Reise durch die sumpfige Mississippi-Landschaft kommen den beiden Jungen Zweifel, ob ihr Wunderheiler wohl wirklich der richtige Mann ist. Aber die Hoffnung, vielleicht irgend etwas gegen den Virus in Eriks Blut zu finden, läßt sie weitersuchen. Kindliche Hoffnung, die nicht als naiv veralbert wird, sondern sich als Weg erweist, mit Dexters Krankheit umzugehen.

„Mississippi“ vermeidet die in vielen Kinderbüchern und -filmen zum Thema „Tod“ oftmals dick aufgetragene Sterbemetaphorik der Erwachsenen. Dexter, ohne mitleidsheischende Attitüden von Joseph Mazello gespielt, bekommt keinen Trost in Bildern von außen, kein Märchenland versprochen, in dem er nach dem Tod weiterleben wird. Er weiß, daß er sterben muß und redet darüber in der Sprache der Science-fiction-Filme, die er im Fernsehen sieht: „Manchmal fühle ich mich, als ob ich 18 Millionen Lichtjahre von der Erde weg bin, ganz allein im Universum.“ Auch Aids hat die Kinderwelt entzaubert.

In dem Film, so war es bei der Pressekonferenz nach der Voraufführung vom Berliner Aids Forum zu hören, könne es auch um jede andere tödliche Krankheit gehen – Aids sei nicht das eigentliche Thema. Das stimmt nicht: Dexters Situation ist nicht allein durch die Tatsache bestimmt, daß er sterben wird, sondern durch die Isolation und das Mißtrauen, die er von Nachbarn und Mitschülern erfährt: „Die blöde Schwuchtel hat Aids.“ „Mississippi“ hat ein wichtiges Thema zum Inhalt. Jede Promotion, die das aufgreift, wird jedoch Besucher abschrecken: Aidskranke Kinder sind einfach nicht das, was man sich für einen unterhaltsamen Kinoabend wünscht.

In den USA ist der Film entsprechend schlecht gelaufen, und der deutsche Verleih verspricht daher auf dem Plakat ziemlich vage „eine Geschichte über das Leben, den Tod und das Versprechen der Freundschaft“. Darunter kann sich Besucher alles und nichts vorstellen. Als Aids-Film wird „Mississippi“ nur den Lehrern für Schulvorstellungen angeboten werden – und droht so, von einem wirklich schönen und gut gemachtem Jugendfilm zum Diskussionsanreger für den Ethikunterricht degradiert zu werden.

Es ist allerdings richtig, daß „Mississippi“ nicht nur ein Film über Aids ist. Er erzählt auch die Geschichte von Erik, der – genauso wie Dexter – alleine mit seiner Mutter lebt. Erik (Brad Renfro – kennt man aus Joel Schumachers „Der Klient“) hat keine Lust aufs Feriencamp und spielt lieber stundenlang Nintendo oder mit seinen Action Heros. Den unfreiwilligen Außenseiter Dexter nimmt er erst zögerlich, dann begeistert als Freund an.

Dazu kommen die beiden Mütter, die jede für sich ein amerikanisches Klischee erfüllen: Eriks Mutter, die säuft, mit einem schlechtbezahlten Job 16 Stunden am Tag beschäftigt ist und ihrem Sohn den Umgang mit dem aidskranken Nachbarjungen am liebsten verbieten möchte.

Als Gegenpart Linda (Annabella Sciorra), Dexters Supermutter, die jeden Tag nach der Arbeit mit unzähligen Einkaufstüten beladen vom Supermarkt nach Hause kommt und dann noch die Geduld hat, mit ihrem Sohn herumzualbern. Eine zerbrechliche Fassade, die sie nur mit Mühe gegenüber ihrem Sohn aufrechterhält.

Alltagsstreß, geschiedene Eltern, Freundschaft und so weiter sind ziemlich normale Elemente für einen amerikanischen Jugendfilm. Um so mehr verstört inmitten dieser Normalität die Hauptfigur von „Mississippi“ – Dexter, 11 Jahre alt und aidskrank. Kolja Mensing

„Mississippi – Fluß der Hoffnung“. Regie: Peter Horton. Buch: Robert Kuhn. Kamera: Andrew Dintenfass. Mit Joseph Mazello, Brad Renfro, Annabella Sciorra, Diana Scarwid u.a. USA 1995