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Versicherte verunsichert

■ Kompromiß zur Frührente stiftet ordentlich Verwirrung. Die Beitragssätze zur Rente steigen wahrscheinlich trotzdem

Bonn (taz) — Wie nicht anders zu erwarten hat das Bundeskabinett gestern den Kompromiß zur Frührente abgesegnet, der am Montag abend in der Kanzlerrunde mit Gewerkschaften und Arbeitgeber erzielt worden war. Doch mit der Zustimmung des Kabinetts sind längst nicht alle Probleme vom Tisch.

Mit der Kabinettsentscheidung steht fest: Der Stichtag für die Vertrauensschutzregelung ist der 14. Februar, Null Uhr. Wer nach Ablauf des 13. Februar 55 Jahre alt oder arbeitslos wurde, oder wer nach diesem Zeitpunkt erst seinen Auflösungsvertrag mit seinem Arbeitgeber unterschrieben hat, der hat Pech gehabt. Für den gilt die neue Regelung.

Der Stichtag führte zu einer regelrechten Torschlußpanik. „Hier rufen Tausende aus dem ganzen Bundesgebiet an“, berichtete eine Telefonistin bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte in Berlin. Entnervt fügte sie hinzu: „Da blickt doch keiner durch“. Auch Jens-Uwe Karstensen von der Landesversicherungsanstalt Hamburg schimpfte unverhohlen über die „Nacht-und-Nebel-Aktion“ von „Kohl und Genossen“. „Es ist schrecklich. Wir sind überhaupt nicht informiert worden. Wir wissen alle nicht, was los ist.“ Ständig riefen verunsicherte Versicherte an. Auch ihm sei nach unterschiedlichen Medienberichten völlig unklar gewesen: Ist der verflixte Stichtag „gestern, heute oder morgen“?

Unternehmen wünschten sich längere Fristen

Auch die Unternehmen hätten sich einen längeren Fristzeitraum bis mindestens Anfang März gewünscht. Dann hätte man wenigstens die eingeleiteten Fälle noch abwickeln können, so ein Siemens- Sprecher. Er hält es für ausgeschlossen, daß es dann zu „erdrutschartigen Bewegungen“ gekommen wäre. Am Dienstag habe man nur noch die sowieso unterschriftsreifen Auflösungverträge abwickeln können.

Auch die finanzielle Zukunft der Rentenversicherung sieht trotz des erzielten Kompromisses noch nicht rosig aus. Bei aller Freude über seinen Erfolg mußte Bundesarbeitsminister Norbert Blüm doch einräumen, daß 1997 mit einer Entlastung der Rentenkassen noch nicht zu rechnen sei. Auch kann eine Beitragserhöhung für das nächste Jahr nicht ausgeschlossen werden.

Zwar wolle man weitere Beitragssteigerungen verhindern, hieß es gestern im Bundesarbeitsministerium, doch wie hoch sie im nächsten Jahr genau sein werden, könne man erst im Herbst sagen. Erst vor knapp zwei Wochen hatte der Minister im Bundestag einräumen müssen, daß in der Rentenkasse ein Defizit von 10 Milliarden Mark absehbar ist und 1997 eine Beitragssatzerhöhung um 0,6 auf 19,8 Prozent droht.

Der Verband der Rentenversicherungsträger geht davon aus, daß trotz der neuen Frührentenregelung und des Altersteilzeitmodells nicht mit einer kurzfristigen Entlastung der Rentenkasse gerechnet werden kann. Vielmehr sei damit zu rechnen, daß 1997 die Beiträge noch einmal steigen werden, sagte ein Sprecher der taz.

Über die Höhe der Steigerung könne man jetzt allerdings noch nichts sagen, da die genaue Angaben dazu erst im Oktober des Jahres vorlägen. Bis dahin könne man nur hoffen, daß das Bündnis für Arbeit greife und die Zahl der Beschäftigten und damit auch die der Beitragszahler steigen würde. Karin Nink/Christoph Oellers

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