Kein Pardon

■ Jessye Norman brachte das Publikum in der Musikhalle an den Rand der Extase

Der Saal tobte. Nach knapp 80 Minuten Programm und fünf Zugaben verabschiedete sich die amerikanische Sopranistin Jessye Norman von ihrem Hamburger Publikum, das in einer Woge jubelnder Verzückung zurückblieb. Der Abend galt der Erinnerung an den erst kürzlich verstorbenen Geoffrey Parsons, dem langjährigen Liedbegleiter der Norman. Für Parsons sprang der Brite Charles Spencer ein. Eine würdige Vertretung mit großem Talent.

Mit einem asiatisch bemusterten dunklen Gewand rauschte die Grande Dame mit der grandiosen Stimme, die ein Kritiker als „hell und stechend wie eine Fanfare unter Hochdruck“ charakterisierte, aufs Podium. Bergs Jugendlieder zündeten nicht so recht. Noch hatte sich nicht die rechte Norman-Stimmung eingestellt, zumal eine erkältungsgeplagte Zuhörerin gar zu heftig in die Klangwelt des jungen Berg hineinkläffte. In der Pause berieten sich empörte Fans (Kartenpreis 220,- DM): „Die hätte ihre Karte fürs Doppelte verkloppen und sich eine anständige Medizin kaufen sollen.“ Nein, die Norman-Fans kennen kein Pardon.

Bei Richard Strauss wurde dann alles besser. Hier konnte sich Jessye Normans Größe Note für Note entfalten. Im großen Opernfach setzt sie auf Klangfülle und weniger auf hektische Dramatik. Ihrem Kammer-Ton kommt das zugute. So gewann besonders das intime Allerseelen an Eindringlichkeit, da hier die Wucht der Stimme nur gedämpft, aber nicht entschärft schien. Berlioz' Les nuits d'été zeigten Jessye Norman in ihrem Element. Als in Ständchen nach dem kecken „Vergiß nicht mein“ das Piano nicht weniger keß die Schlußformel leicht verzögerte, murmelte das Publikum im Tonfall wohliger Heiterkeit. Endlich kamen die ersehnten Spirituals (diesmal zwei). Mit der Magie einer Königin, die vom Thron herabsteigt und das geliebte Volk küssen möchte, animierte Jessye Norman zum fröhlichen Mitklatschen und nachdenklichen Mitsummen.

Sven Ahnert