Taub oder laut

■ Jan Philipp Reemtsma eröffnete die Matineereihe „Angesichts unseres Jahrhunderts“ im Schauspielhaus

Ist Auschwitz ein Phänomen der maßlosen Barbarei unter anderen unseren Jahrhunderts oder kommt ihm eine Singularität zu, die sich jedem Vergleich entzieht? Bevor man diese Frage schnell und einfach beantwortet, so mahnte Jan Philipp Reemtsma bei seinem Eröffnungsvortrag zur Matineereihe Angesichts unseres Jahrhunderts – Reden über Gewalt und Destruktivität am Sonntag im Schauspielhaus, sollte man innehalten und sich der Abwehrstrategien gewahr werden, die hinter beiden Haltungen stehen können.

Reemtsmas These, die er zum Ausgangspunkt seiner historischen Betrachtung über Zonierung und Entgrenzung von Gewalt machte, lautete denn auch: Die Gefühlskälte, die Hannah Arendt beschrieben hat, als sie nach Ende des Zweiten Weltkrieges Deutschland bereiste, mit der Schrecken gegen Schrecken aufgerechnet wird, um das Grauen zur diffusen Allgemeinschuld zu relaltivieren, verhindert ebenso einen menschlichen Zugang zu dem Phänomen des Holocaust wie die rhetorische Abkoppelung von Auschwitz aus der Geschichte, mit der man die vergleichende Analyse tabuisiert.

Gerade zum Jahrestag des Endes der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sind diese Fragestellungen wieder so aktuell wie unmittelbar nach Kriegsende, denn der heutige Umgang mit diesem Teil unseres historischen Erbes, soweit es nicht einfach der Ignoranz anheimfällt, ist oft noch oder wieder von denselben Konfliktvermeidungsstrategien gekennzeichnet.

Reemtsma versucht dagegen eine Wahrnehmungs- und Bearbeitungsmodell zu entwerfen, das, so auch der Titel seines Vortrages, sich bemüht „des Schreckens inne(zu)werden“, aber sich von dem Schock des „Selbstmordes der Zivilisation in Auschwitz“ nicht davon abhalten läßt, die ernsthafte Untersuchung der Ereignisse immer wieder zu betreiben, wohl wissend, daß am Ende immer nur eine Form des Scheiterns stehen kann.

Von den Versuchen nach dem Dreißigjährigen Krieg, die entfesselte Gewalt auf Schlachtfelder (real und metaphorisch) zu bannen bis zur endgültigen Entregelung aller Grundrechte durch die Ereignisse in unserem Jahrhundert in Auschwitz, Hiroshima oder den Gulags, beschrieb Reemtsma dann den Wandel im zivilisatorischen Umgang mit Gewalt, um mit dem Appell zu schließen, man möge das 20. Jahrhundert nicht als das der Barbarei pauschalisieren, aber man hüte sich davor, sich gegen den Schrecken zu anästhisieren.

Till Briegleb