Die Spiele der maskierten Ritter

Karneval auf Sardinien: von der mittelalterlichen Volksbelustigung zum Touristenspektakel. Die besten Reiter vollführen halsbrecherische Kunststücke und landen zuweilen auf der Bahre  ■ Von Günter Schenk

Reglos liegt der Reiter im Sand der Via Mazzini. Die Lautsprecher verlangen nach einem Sanitäter. Bei Tempo 60 hat es den Glücklosen vom Pferd gehauen – so wie ein halbes Dutzend seiner Freunde zuvor. Die monatelangen Proben haben nichts genutzt. Wagemut und Ehrgeiz waren stärker als sportliches Können. Ein zirkusreifes Kunststückchen hoch zu Roß ist danebengegangen. Der Bau einer menschlichen Pyramide im vollen Galopp endete am Boden. Nase und Rippen sind angeknackst – Routine für die Ärzte, die an Fastnacht Dienst tun.

Karneval in Oristano, der kleinen Stadt an der Westküste Sardiniens, ist kein Fest zum Lachen. Eher schon zum Staunen. Eine Feier mit jahrhundertealter Tradition, eine folkloristische Mischung, wie man sie in dieser Vielfalt und Pracht sonst nirgends mehr findet – getragen von Zünften, die das bunte Spektakel am Fastnachtssonntag und -dienstag inszenieren. Kräftig unterstützt vom Verkehrsverein, der an diesen Tagen Zehntausende von Zaungästen willkommen heißt.

Im Mittelpunkt der „Sartiglia“, der Spiele der maskierten Reiter, stehen neben den Reitern vor allem die Pferde, schlanke Vollblüter, die zu Fastnacht herausgeputzt werden. Bunte Rosetten zieren ihren Schweif, viele hundert Papierblumen ihr Zaumzeug. Noch prächtiger erscheinen die Roßlenker in ihren traditionellen spanischen und sardischen Kostümen, die Gesichter hinter weißen Masken versteckt.

„Compoidori“ heißt ihr Chef. Ein Ritter, der von den Bürgern Oristanos wie einen Halbgott verehrt wird. Jährlich zu Mariä Lichtmeß wählt ihn das Volk. Fast mystisch ist seine Einkleidung. Denn nur Jungfrauen haben das Recht, ihn zu berühren. Nur wenige sind bei der mittäglichen Zeremonie dabei, wenn die Damen in ihren Festtagstrachten den Auserwählten in Kleider stecken und Maske, Hut und Schleier so fest miteinander vernähen, daß der Held des Tages beim besten Willen weder essen noch trinken kann. Schließlich wird er auf sein Pferd gesetzt. Jungfrauen bitten für das Gelingen des Festes einen Heiligen um Beistand: am Sonntag Johannes, den Schutzherrn der Bauern, am Dienstag Josef, den Patron der Zimmerleute. Die Zünfte der Zimmerleute und Ackermänner sind es auch, die den Brauch tragen und ihre Präsidenten jährlich zum Namenstag ihrer Schutzheiligen neu bestimmen.

Am frühen Nachmittag wird es lauter. Im Schatten des Mariendomes künden Trommler und Trompeter die „Sartiglia“ an, das traditionelle Ring-Reiten, das in den Ritterspielen adliger Renaissance- Fürsten seinen Ursprung hat. Quer über die Straße hängt ein fünfzackiger Stern an einem Seil. Ein Stimmungsbarometer, auf das zu Fastnacht alle Augen gerichtet sind – wie auf den „Compoidori“, der mit dem Degen auf den Stern zugaloppiert, im Visier das kleine Loch inmitten des Fünfzacks.

Großer Jubel beschließt die Attacke. Der silberne Stern prangt an der Degenspitze, der Ritter hat geschafft, was das Volk erhofft hat. Tausende haben seinen Ritt von den Tribünen aus verfolgt – noch mehr im sardischen Fernsehen, das live dabei ist. Hoch oben im Domturm haben die Fernsehleute ihre Richtfunkanlage versteckt, die jeden auf der Insel an der Sartiglia teilhaben läßt.

Jetzt sind die anderen Ritter an der Reihe, müssen auch sie ihr Können beweisen. Gut drei Dutzend schickt der „Compoidori“ ins Rennen. „Ahs“ und „Ohs“ markieren Flops und Tops. Die meisten Attacken zielen ins Leere oder, weit tragischer, so knapp neben das Loch im Fünfzack, daß die Sterne ins Publikum fliegen. Einer hat einen Zaungast aus Übersee getroffen, auch das Routine für die Sanitäter.

Am späten Nachmittag beginnt der zweite Teil der Ritterspiele nördlich der alten Stadtmauern, wohin sich die Besuchermassen jetzt orientiert haben. Quer durch die Stadt sind sie gewandert, über die Piazza Eleonora mit dem Denkmal der Nationalheldin durch die kleine Fußgängerzone mit den wenigen Geschäften zur Piazza Roma, dem Zentrum Oristanos. Hochbetrieb herrscht hier in den Cafés und Bars – und um die Ecke ist kein Durchkommen mehr. Rechts und links der Via Mazzini drängen sich Tausende. Wie alle Turnierstrecken deckt auch sie ein dichter Teppich aus Sand. Der richtige Rahmen für Sardiniens beste Reiter. Zirkusreife Kunststücke zeigen sie, halsbrecherische Vorführungen, die nicht selten anders enden als geplant.

„Pariglie“ heißt ihr Wettstreit, die Antwort des Volkes auf die Reiterspiele des Adels, welche die spanischen Eroberer einst nach Sardinien mitgebracht hatten. Weil die Ritter früher aber am liebsten unter sich blieben, erzählt man in Oristano, hätten die einfachen Leute sich zu Fastnacht eben außerhalb der Stadt amüsiert. Aus der Volksbelustigung von damals ist längst ein touristisches Spektakel geworden, von den Jungen und Alten bestaunt.

Mit und ohne Sattel sausen die Ritter über die staubige Piste, vorbei an den Juroren auf der Tribüne, die ihre Kunststücke bewerten: den Bau von Pyramiden und Brücken. Dicht an dicht hetzen die Rösser die Straße entlang, auf ihren schmalen Rücken liegen oder stehen Männer, wenn es geht, gar zwei übereinander. Den Besten winken zwei ausgesuchte Vollblutpferde als Preis, Ansporn genug auf einer Insel, die zu den ärmsten Landstrichen Italiens zählt.

Kein Wunder, daß angesichts solcher Trophäen mancher seine Kräfte überschätzt. Mehr als einer landet so statt auf dem Siegertreppchen auf der Liege der Rettungssanitäter. Der Beifall der Sarden ist aber allen sicher, den Helden wie den Unglücksraben. Denn Freude und Trauer gehören zum Karneval in Oristano wie die Nacht zum Tag.