Winter, verlangsamt

Die Alster ist zu und ich endlich in der Mitte von Hamburg. Wehmütiger Blick zurück oder: Kindheitserinnerung an ein eiskaltes Abenteuer  ■ Von Susanne Fischer

„Wann ist es soweit?“ fragten wir uns früher jedes Jahr; denn wenn der schmutzfarbene Hamburger Himmel, meist irgendwann im November, die ersten dicken und feuchten Flocken hergab, die auf dem Asphalt sofort wieder vergingen, waren wir sicher, daß es nicht mehr lange dauern könnte, bis „die Alster friert“. Wir froren ja schließlich schon lange.

Die Alster ist nicht nur dieser große, plumpe Teich in der Mitte von Hamburg, sondern vielmehr ein ganzes System von Zuflüssen, aufgestauten Bächen und vielen Entwässerungskanälen, die sich wie ein Netz nördlich der Elbe durch die Hansestadt ausbreiten. Ohne die Kanäle, die den sumpfigen Grund rund um die Alster entwässerten, wäre die Stadt vor langer Zeit in den Erdboden versunken, was manche ihr wünschen, ich aber nicht. Als Kind wohnte ich dicht neben einem Kanal und konnte im Winter täglich prüfen, wie es um das wachsende Alster- Eis bestellt war.

Es beginnt mit einer dünnen, durchsichtigen Haut, die leichte Wasservögel trägt. Dann wird das Eis langsam dick und weißlich, und viele Steine und Äste liegen darauf herum, von ungeduldigen Kindern geworfen, die wissen wollen, wieviel das Eis schon aushält. Auf den Kanälen trägt es eher als auf der Außen- und der Binnenalster, wo sich noch lange die Schiffe ihren Weg durch immer dickere Schichten bahnen. Man kann sich schon auf das Kanaleis trauen, während man unter den Brücken noch Wasser plätschern hört. Bremsen sollte man beim Schlittschuhlaufen trotzdem unbedingt als erstes lernen.

Und schon ist, wenn man Glück hat, mit einem Mal die Alster zu. Heutzutage beginnt dann die Zeit, in der im Radio „vor dem Betreten der Eisflächen gewarnt“ und darum gebeten wird, von der lockenden Gefahr auch „die ausländischen Mitbürger“ zu informieren. Da stelle ich mir immer vor, wie ich mit wichtiger Miene bei meiner fünfzehnjährigen türkischen Nachbarin klingele und sie dringlich davor warne, das Alster-Eis zu betreten. Und wenn sie kein Deutsch könnte, müßte ich versuchen, die Alster pantomimisch darzustellen. Selbst für gebürtige Hamburgerinnen keine ganz einfache Aufgabe. Früher standen im Winter an der Uferpromenade überall Warnschilder, die stets mit „Eltern haften für ihre Kinder“ endeten. Der Gedanke, daß meine Eltern ins Gefängnis kämen, wenn ich „unbefugt“ die Eisfläche betreten würde, erschreckte mich zutiefst. Jedenfalls mehr als mein einziger Eiseinbruch auf einem Nebenarm der Alster.

Statt ins Gefängnis ging mein Vater bis zum Nabel in eiskaltes Wasser, weil er mich retten mußte. Alles endete glimpflich für mich, nämlich in einer riesigen, von meiner Großmutter geliehenen Wollunterhose. „Einbrechen“ gehört damit für immer zu den wenigen Abenteuern meiner wohlbehüteten Jugend.

Eis auf der Alster war früher schwarzweiß und still, und das liegt nicht nur an den alten Fotos, die mir dabei einfallen. Das Eis war (und ist) schwarz, der Schnee darauf weiß, der Himmel grau. Soweit die Konstanten. Dunkle Winterkleidung, weiße Schlittschuhe, eisengraue sogenannte „Hamburger Mäntel“ für die kleinen Mädchen – das ist ein für allemal erledigt. Heute traut sich jedermann auch mit Tuschkastenunfällen auf der Kleidung aus dem Haus. Und über das sirrende Gleiten der Schlittschuhkufen brauche ich kein Wort mehr zu verlieren, denn man würde weder die Kufen noch mich hören vor lauter Eis-Disko und allgemeinem Frohsinnsgekrähe.

Wie es scheint, hatten wir früher so gar kein richtiges Vergnügen auf dem Eis, weil man damals glatt vergessen hatte, Buden darauf zu stellen. Heute dagegen kann man auf der Alster alles kaufen, was man sonst auch nicht haben will, und noch ganz viel Glühwein und Würste dazu.

Nostalgisch gewendete Kritik an der gnadenlosen Kommerzialisierung von Kindheitserinnerungen ist wenig originell, wende ich hier auf einer flugs gezimmerten Meta-Ebene ein, ehe es ein anderer tut.

Dennoch muß ich einmal die Spektakelsucht der Hamburger anprangern, die nach dem Motto „Wo der Bierstand ist, da bin auch ich“ aus allem einen kreischenden Massenauflauf mit öligen Fritten und billigem Fusel machen müssen. Und zwar nicht als Rand- oder Folgeerscheinung eines wie auch immer gearteten Ereignisses. Der Hamburger verlangt allen Ernstes, daß man zuviel Alkohol und heißes Speiseöl an sich bereits als Ereignis anerkennt, so wie man sein lästiges Gekreische und Getobe als überschwengliche Stimmung hinnehmen soll.

Jetzt baue ich meine Meta- Ebene rasch wieder ab, noch schneller, als die Hamburger ihre Bierstände, und gestehe freiweg, daß ich dem Vorabgetöse der Hamburger Morgenpost um das von ihr selbst in diesem Winter veranstaltete Top-Alster-Eisvergnügen äußerst skeptisch gegenüberstand und eine gewisse Schadenfreude empfand, als der derart beleidigte Fluß sich umgehend mit einem Riesenriß rächte und Hunderttausende ans Ufer trieb. Doch Glühweinhändler Benny, 34, vom Bodensee (oder so ähnlich), war nun todtraurig, daß er auf tausend Litern Stoff „sitzenblieb“ und verlangte gar „Entschädigung“. Ich verlange dagegen, daß er in Zukunft zu Hause bleibt, denn schließlich nenne ich mich ja auch nicht Benny und verkaufe dann entschädigungspflichtigen Köm in Konstanz. Tauwetter kam, während sich die Morgenpost über die zurückgebliebenen Müllberge ihres Topvergnügens aufregte und mit bekannt hanseatischer Nonchalance über ihre eigene massive Beteiligung am Unfug des Jahres hinwegsah. Ein paar Tage später fror es aber schon wieder, und alles, einschließlich Budenstraßenaufbau, begann von neuem.

Und schließlich wage ich es doch, mich der Verhöhnung meiner Kindheitserinnerungen auszusetzen. Ich warte, bis es dunkel ist. Die Leute haben phosphoreszierenden Schnickschnack an sich und ihre Hunde gehängt, um auf gar keinen Fall übersehen zu werden. Generatoren brummen laut, aber an langen Kabeln weit genug entfernt von den Buden, damit die Generatorenbesitzer selbst nicht belästigt werden. Ich versuche, tolerant zu sein, aber es langt nur zum Ohrenzuhalten.

Doch endlich, endlich stehe ich in der Mitte von Hamburg. Hier sieht man ein Panorama, das sonst nur Enten und Wassersportler geboten bekommen, wobei über die ästhetische Genußfähigkeit beider Gruppen bisher nichts Überzeugendes herausgefunden wurde. Surfer können auf dem bewegten Wasser auch nur schlecht innehalten und sich ganz langsam um ihre eigene Achse drehen. Aber ich, jetzt, tue genau das auf dem erstarrten Fluß. Für einen Augenblick möchte ich darüber nachdenken, ob und wie Winter und Verlangsamung miteinander zusammenhängen, bis 17.000 Beats per minute aus einem akustischen Hinterhalt über mich herfallen.

Während ich über die zackigen Eisschollen der zugefrorenen Fahrrinne rutsche, unterhalte ich mich mit Menschen, die sich an den Krieg erinnern können. Radiosprecher würden sie „unsere älteren Mitbürger“ nennen. Sie erzählen, wie damals die ganze Binnenalster mit Planen abgedeckt wurde. Auch die Außenalster war verkleidet und in einen schmaleren Fluß „verwandelt“; man hatte sogar eine künstliche Lombardsbrücke gebaut, ein Stück entfernt von der echten, um die alliierten Bomber zu verwirren. In den sechziger Jahren erwog man, ein Parkhaus unter die Alster zu bauen. Mit der absoluten Nutzlosigkeit des Gewässers mochte sich offenbar noch nie ein Pfeffersack abfinden.

Es beginnt zu regnen, und es wird leer auf dem alten Mühlenteich Alster. Gelblich schimmert der Nachthimmel über Hamburg. Schon morgen wird das verlockende, das bedrohliche Knacken und Krachen wieder über die Eisfläche rasen, an den Stellen, an denen sie im großen Stil reißen, schmelzen und brechen wird. Einige Sekunden lang höre ich es schon. Es knistert gefährlich, aber es sind doch nur die leeren Plastikbecher, die der Wind über das Eis jagt.