„Ein deutscher, ehrlicher Sozialist“

Schülerinnen des Luckenwalder Gymnasiums bereiten eine Ausstellung über Rudi Dutschke vor. Sein Bruder Helmut will nicht den 68er, den Revoluzzer, sondern „den Menschen Rudi“ zeigen  ■ Von Constanze von Bullion

Es ist stockfinster. Hinter einer Tür quält sich eine Oboe die Tonleiter hinauf. Dutschke? Der Musiklehrer schüttelt den Kopf. „Kenn ick nich.“ Die Tonleiter im Hintergrund driftet leise ab, der Mann wird offenbar gebraucht. Am Ende einer staubigen Holztreppe dann endlich die vertraute Stimme. Dröhnend laut, in atemlosem Galopp, immer kurz vor der Heiserkeit. Alles klar, das muß er sein.

Die Haare sind schneeweiß geworden, und auf der Nase sitzt eine schmale Metallbrille. Ansonsten sieht er aus wie früher. Vor uns steht nur nicht good old Rudi, sondern sein Bruder und Stellvertreter auf Erden: Helmut Dutschke, umringt von sechs jungen Frauen. Mit rudernden Armen erklärt der frühpensionierte Elektroingenieur, was noch zu tun ist „bisset losgeht“. Unter den Dachbalken des Luckenwalder Kreismuseums, zwischen Stapeln von Fotos, vergilbten Akten und handgeschriebenen Briefen wird eine Ausstellung vorbereitet. „Die sollen sich nicht schämen für mich in Luckenwalde“ haben die Schülerinnen sie genannt. Eröffnung ist am 11. April 1996, genau 28 Jahre nach dem Attentat auf Rudi Dutschke.

Nicht den Politsponti, „den Menschen Rudi Dutschke“ werden wir hier kennenlernen. Den wahren Rudi sozusagen.

„Der erste Schuß fiel an unserer Schule“ steht auf der feuerroten Schülerzeitung des Gymnasiums Luckenwalde. In der brandenburgischen Kleinstadt, deren Ruhm sich bisher nur auf Herrmann Hentschel, den Erfinder des Papptellers stütze, hat Rudi Dutschke Abitur gemacht. Erinnern möchte Schulleiter Michael Kohl lieber nicht daran.

Nur widerwillig ließ er sich vergangenes Jahr dazu überreden, die Hauswand mit einer Gedenktafel verschandeln zu lassen. Daß jetzt die ganze Schule nach dem Schreihals benannt werden soll – für ihn eine Schnapsidee. An dem Kleinkrieg um die Anstaltstaufe beteiligen sich inzwischen an die zehn Parteien. „Lenin-Gymnasium“ propagieren die Schülersprecher. „Park-Gymnasium“ heißt der dröge Vorschlag der Lehrerkonferenz. „Weilet ihnen scheißegal ist“, meint Nadine.

Die Schülerin mit dem grünen Schimmer im Haar gehört zu der Handvoll Unerschrockener, die nicht müde werden für den alten Revoluzzer zu kämpfen. Aber fotografiert werden will sie dabei nicht, überhaupt sind Journalisten doch bekloppt. Rudi Dutschke? „Echt mutig“ findet Carla mit den orangefarbenen Strähnen den Apo-Apostel, der in seiner Abiturrede zur Wehrdienstverweigerung und Wiedervereinigung aufrief.

Rudis Rektor sah das 1957 anders. Der Schüler sei „eigenwillig und wenig kameradschaftlich“, hieß es in seinem Abiturzeugnis. Nach seinem Auftritt wurde die Note heruntergesetzt, das Verhalten des frommen Pazifisten entspreche „nicht den gesellschaftlichen Anforderungen“. Das Aus für Studium und DDR-Karriere.

Aufgefallen war der schmächtige Jüngling, dem Mädchen und Tanzstunden, so Bruder Helmut, „ein Greuel“ waren, bis dahin kaum. Auch Carlas Mutter, die zwei Klassen unter ihm war, hatte offenbar ganz andere Jungs im Visier. Nur im Sport, da war Rudi ganz groß. Stemmte Kugeln und Hochsprungstangen, rannte am schnellsten und warf am weitesten. Oder mit den Worten Helmuts: „Er wollte immer ehrlich siegen.“ Extrem ehrgeizig war der spätere Sportreporter des Springerverlages wohl schon zu Kinderzeiten. Da kam es schon mal vor, daß Sensibelchen Rudi „fast 'ne halbe Stunde geheult hat“, weil er im Schwimmen „nur 'ne Zwei im Zeugnis“ hatte.

Mutters Bester war der jüngste von vier Brüdern allerdings nur bis zu dem Tag, als er sich auf dem Rücksitz von Helmuts Motorrad nach West-Berlin verabschiedete. Von da an mußte die leidgeprüfte Frau am Bildschirm verfolgen, was ihr Sohn drüben anrichtete.

„Bist du denn ganz vom Teufel besessen?“ schrieb sie 1967 außer sich. Bekannte hatten Rudi im Fernsehen gesehen, „mit wüsten Haaren, und Gretchens Pullover hattest Du an“. Ob er „keinen eigenen Pullover“ habe „oder einen anständigen Anzug“, erkundigte sie sich. Er hatte keinen. Den berühmten Ringelpulli, den Rudi bei fast jeder Witterung trug, hatte seine Schwiegermutter 1961 für seine Frau Gretchen gestrickt. Das gute Stück zogen die beiden dann abwechselnd an, bei der Ausstellung werden wir dran schnuppern dürfen.

Getuschel der Nachbarn hin oder her – Mutter Dutschke gab nicht auf. „Bei uns“, erinnert sich Helmut, „war Matriarchat.“ Als die resolute Dame sich unverhofft in West-Berlin ankündigte, wurde auch der rebellische Rudi nervös. „Mutter“, wußten die Brüder, „det gibt Druck.“ Eilig lieh sich der Barrikadenkämpfer einen Anzug vom Genossen Rabehl, der hielt das klassenfeindliche Outfit gleich im Foto fest.

Ärger war auch angesagt, als Rudi zur Jugendweihe seiner Neffen in Luckenwalde auftauchte, unterm Arm die unvermeidliche abgewetzte Aktentasche. „Rudi, wir müssen eine neue kaufen“, redete Helmut auf den mißratenen Bruder ein. Vergeblich. Was drin war in dem Köfferchen, liegt auch demnächst in der Vitrine: eine Schere, ein Rasierapparat nebst Klinge, nicht zu vergessen Rudis Zahnbürste.

„Rudi, entwurzelt aus der DDR, vertrieben aus der DDR“, für Bruder Helmut ist das der Dreh- und Angelpunkt der Ausstellung. 800 Seiten fand er vor, als er in der Gauck-Behörde nach der Stasi-Akte seines Bruders fahndete. Allein die Bewachungsfotos könnten ein ganzes Album füllen: Rudi mit seinen Kindern Hosea- Che und Polly, Rudi bei Gretchen, Rudi mit Wolf Biermann, Rudi und Robert Havemann.

Selbst im Schwimmbad waren die Spitzel dabei und beobachteten wie das Enfant terrible der BRD durchs Becken tobte. Pflichtschuldig notierten die Staatsschützer in Badehose, daß „Quelle“ alias Dutschke „in seinem Wesen danach strebt aufzufallen“ und „ständig eine Baskenmütze trug, die er selbst beim Baden aufbehielt und nur beim Duschen absetzte“. Ob „Quelle“ für die Stasi tatsächlich eine Quelle war, erfahren wir leider nicht.

Quasi unerwähnt bleibt auch Rudis Polit-Pogo in West-Berlin. Kein Wort zu Vietnam, zum Prager Frühling, zur Studentenrevolte. Nichts von Marxismus, Mao, Medienhatz. Daß die ungleichen Brüder wegen ihrer gegensätzlichen Weltanschauungen „öfter mal Clinch hatten“, leugnet Helmut Dutschke nicht. Und sich öffentlich mit den Ideen seines intellektuellen Bruders auseinanderzusetzen, der 1974 über die „Differenz des asiatischen und westeuropischen Sozialismus“ promovierte, das ist ihm „noch zu früh“ und „zu gefährlich“.

Statt dessen „Rudi und die Kirche“, „Rudi als Leistungssportler“ oder „Rudi ohne Familie“. Wo kaufte Rudi Brötchen, warum war er so beliebt, wie war er überhaupt? Antwort: „Ehrlich, wahrheitsliebend und sensibel.“ Rudi rauchte nicht, trank nicht, nahm keine Drogen. Von Sexorgien hielt er sich fern, blieb immer seinem Gretchen treu. Und das, obwohl die beiden angeblich „gar nicht zusammenpaßten“.

Rudi hatte nie eine Wohnung, zog von WG zu WG, lebte asketisch, protestantisch bescheiden. Standhaft trat er für die Unterdrückten und Beleidigten ein. Selbst seinem Mörder Josef Bachmann hatte er verziehen, bevor er 1979 nach einem epileptischen Anfall in der Badewanne ertrank. „Und den Terrorismus“, meint schließlich Bruder Helmut, „den hätte es nicht gegeben, wenn Rudi nicht umgebracht worden wäre.“ Der wahre Rudi, ein Allerweltsheiliger?

Die Luckenwalder Schülerinnen sehen das etwas anders. Carla hat versucht, die Biographie des Studentenführers zu lesen und findet das Machwerk eher „langweilig“ und „schwer zu verstehen“ – womit sie nicht alleine dasteht. Für Stefanie ist es irgendwie unlogisch, daß Rudi „so eine Führerrolle übernommen hat, obwohl er doch immer Basisdemokratie wollte und ein Kommunist war“. „Ein deutscher, ehrlicher Sozialist, auch Kommunist“, korrigiert sie gleich der gute Helmut. Und „hineingedrängt in die Führerrolle“ habe man ihn doch wohl, wird sie belehrt. Stefanie läßt sich nichts erzählen. Die Geschichte mit dem aufrechten Gang, die hat sie kapiert. „Interessant ist der ja schon“, meint sie, „aber seine Ansichten, naja, so total toll finde ich die auch nicht.“

Siehste Rudi, der Kampf geht weiter.

Die Ausstellung ist ab dem 11. April im Kreis- und Heimatmuseum Luckenwalde zu sehen