Die böseste Beglückung

■ „Der Drang“ von Kroetz im Schauspielhaus: schräg, bös, drangvoll und gut

Der ganze Saal blumengeschmückt, rote Balkonblumenpracht allüberall an den Logen, Rängen und am Bühnenrand. Links ein Großjesus am Kreuz, rechts ein grünes Neonkruzifix. Statt des geschlossenen Vorhangs vor Aufführungsbeginn eine quiekbunte Blümchen-Projektion über die ganze Bühne und alles, was dort zu sehen ist: Bühnenbildner und Regisseur Wilfried Minks hat keine Angst vor dem Kitsch.

Konsequent hat er die von Kroetz für sein Stück geforderte „leichte“ Verschiebung in nicht zu entfernte Vergangenheit umgesetzt und für seine Interpretation des Stoffes dadurch gleich die passendste Epoche gewählt: eine Art frühe Mitte der 80er Jahre, als vor allem in der Provinz noch Mode und Möbel der 70er fortlebten und die Ängste doch ganz neu waren. Eben jene Zeit, als engsitzende Großdruck-Blusen und Aids sich knapp und kurz berührten.

Hier ist sie also, die Gärtnerei, in deren Treibhaus-Atmosphäre Franz Xaver Kroetz sein nach zehn Jahren erstes Theaterstück hineingeschrieben hat. Und hier sind die Figuren, die Gestalten, die der neue Kroetz geschaffen hat – und der Reigen ist so stimmig wie scheußlich, und ganz der Dekoration gemäß. Da ist Hilde (Gundi Ellert), die meint: „Eine Gärtnerei is ein besondrer Ort. Alles blüht, und das Leben springt aus jedem Blumentopf.“ Ihre Welt gerät durcheinander, als ihr exhibitionistischer Bruder Fritz (Edmund Telgenkämper) schon durch seine bloße Anwesenheit alle unterdrückte Brunft der Welt in ihrem Umfeld zu neuem Leben erweckt, daß es nur so aus den Blumentöpfen und Reißverschlüssen springt. Und da ist ihr Mann Otto (Peter Brombacher), der plötzlich seine „wilde“ Männlichkeit wiederzuentdecken meint. Und Mitzi (Marion Breckwoldt), die sie ihm entdecken hilft, aber eigentlich lieber den Fritz zur Brust genommen hätte.

Im genialen Bühnenbild, das auch am Ende des Abends, nach 27 Umbauten, nichts von seiner grauslichen Faszination verloren hat – und faszinierend ist eben auch, wie treffsicher die Orte mit wenigen Requisiten ganz real umrissen werden –, in den 27 knappen Bildern einer komischen Hatz durch alles Unterdrückte hat Minks den drastischen Figuren des Franz Xaver Kroetz eine Seele gegeben, die über das Zotige der Situationen hinausgeht. Allerdings hat diese Seele es nicht leicht inmitten des Verhaltens- und Erwartungsmülls, den Kroetz beschreibt.

Beim Seelenbau geholfen haben dem Regisseur die großartigen Akteure: Gundi Ellert zwischen überfordernder Wut, schierer Verzweiflung und einfacher Offenheit; Marion Breckwoldt tapfer-erwartungsvoll auf dem Plüschsofa, dann drastisch fordernd, wie verdurstend nach jeder Berührung, selbst-bewußt und hilflos; Edmund Telgenkämper abgedreht-naiv zwischen stillgelegter Schönheit und zarter Verwunderung und Peter Brombacher, im Feinripp ebenso unwohl wie nackt, nie boshaft, nur dreist.

Virtuos hat Wilfried Minks hier in eindreiviertel Stunden einen prallen Grand-Guignol der Spießerangst und -sehnsucht geschaffen, einen Reigen von Frust und dem schnellen Geschäft bis zum Jodler, so schräg wie die perspektivischen Verkürzungen, die er für sein Bühnenbild ersann, und doch so nah am Echten, daß es schmerzt. Eine böse Beglückung, deren Witzniveau weit unter der Gürtellinie liegt, und die doch viel mehr ist als eine bloße Farce.

Das Publikum hat es ihm wie seinen Akteuren mit Jubel gedankt.

Thomas Plaichinger