Spaß an der Freud? Ja, aber in Maßen

■ Wie ist es um den Karneval im Norden bestellt? Die Hochburg Moorrege besuchte Heike Haarhoff

Die roten Pappnasen fehlen. Vergeblich spähen die Augen im schummrigen Licht nach bunt-karierten Narrenkappen und grellen Federboas. Abendgarderobe – von schwarz-glitzernd geschlitzten Röcken bis zu paillettenbesetzten Bolero-Jacken – ist die gewagteste Verkleidung im Saal. Kein Irrtum: Es sind die 800 Moorreger Jecken, diese seltene Spezies im narrenfreien Norden, die hier an den langen Tapeziertischen sitzen. Seit Weihnachten ist die Mehrzweckhalle „An'n Himmelsbarg“ ausverkauft. Hier, im 3500-Seelen-Kaff an der Einfallstraße zu Uetersen, feiert seit 32 Jahren der mit 250 Mitgliedern größte Karnevalsverein Norddeutschlands munter „drei tolle Tage“. Zur Marschmusik der Hofkapelle auf der Bühne beschwören die Gäste laut singend, daß sie bei der Prunksitzung „heute auf die Pauke hau'n“.

Schon hält der Elferrat – im schmucken blau-weißen Vereins- ornat – zum pompösen Klang der Fanfaren seinen Einzug. Das Prinzenpaar, ebenfalls in marineblau-weiß und behängt mit zahlreichen Orden, schreitet majestätisch über die Bühne und verschwindet für Stunden in einer Art Strandkorb, ihrer Loge. Aus der wird es dann und wann die Hand dem närrischen Volk zum Gruße heben. Das hat bereits die schmissige Einlage der acht- bis zwölfjährigen Jungtanzgarde beklatscht und kichert nun verschämt über die schlüpfrigen Witze des „Manns von Stiftung Warentest“: Er „teste alles ganz genau, auch eine Frau. Vor der Hochzeit ungeniert, hab' ich sie dreimal ausprobiert...“ Der Rest seiner Reime geht im begeisterten Gekreische meiner Tischnachbarin unter. Im Verein über Politik zu sprechen ist „verpönt“. Andernfalls, sagt Präsident Hans Martin, sei die „schöne Harmonie“ gefährdet: Im Sommer gehen die saisonbedingten Narren auf gemeinsame Radtouren oder Grillparties. „Wir nehmen auch NPD-Männer auf“, definiert der pensionierte Buchhalter, was er unter Toleranz versteht. Oberamtsräte, Chemiefacharbeiter, Arbeitslose, Bankdirektoren – ja sogar der Pastor, „ein ganz fideler Bursche“, gehörten dem bunten Grüppchen an.

Funkenmariechen schweben beinschwingend über die Bühne. Persiflagen auf die deutsche Hitparade der späten 70er Jahre übertreffen selbst Originale wie Helga Feddersen. Männerballett. Unvermeidlich auch die Verleihung des Ordens „Wider den Ärger“. Dann endlich das Kommando für das Publikum: Ein wenig mehr ausgelassenheit, bitte schön. Seit Stunden haben 800 Menschen auf diesen Einsatz gewartet. Behutsam schieben sie ihre Stühle nach hinten, damit es nicht so scharrt. Ein bißchen ungelenk wird sich beim Nachbarn eingehakt. Die „phantastische Schunkelpartie“ haben sie seit Monaten spontan einstudiert. „Bier her, Bier her, oder ich fall um.“ Tusch. Schräg, aber überzeugend behaupten sie: „Lustig ist das Zigeunerleben“. Niemand der anwesenden Einfamilienhausbesitzer würde es länger als drei Strophen teilen wollen. Aber im Karneval ist alles erlaubt. „Meine Damen und Herren, bitte etwas mehr Ruhe. Bitte lassen Sie sich am Tisch bedienen.“ Spontane Polonaisen sind in diesem Teil des Programms nicht vorgesehen. Aus der eigenen Haut herauszukommen fällt schwer. Noch wenige Stunden vor ihrem großen Auftritt haben sich die Jecken in ihren Häusern verschanzt. Nur das Rascheln der Gardinen, sobald der neugierige Blick der Fremden durch die schmalen Dorfstraßen streift, verrät ihre Anwesenheit. In der Kirche bereitet ein einsamer Orgelspieler an diesem Samstag nachmittag seinen sonntäglichen Auftritt vor. Ansonsten schwingen durch Moorrege die Klänge der Stille. Knaller, Tuba- und Schlagzeuglärm, bierselige Karnevalshits zum Mitschunkeln, wie sie in rheinischen Dörfern den großen Festumzug einläuten, existieren in der Hochburg des norddeutschen Karnevals in den Köpfen und auf den Fernsehbildschirmen.

Heinz Behrens, „de plattdütsche Mokler un Versekerungskerl“, gründete vor 32 Jahren die Moorreger Karnevalisten aus Mitgliedern des Sportvereins. „Warum sollten wir nicht können, was die Rheinländer auch machen?“ Natürlich, zwinkert der heutige Ehrensenator des Vereins unter der dreizipfeligen Mütze, habe man sich norddeutsche Eigenarten bewahrt: Ahoi statt Alaaf und Helau. Niemand käme auf die Idee, an Weiberfastnacht auf Schlipsjagd zu gehen. Auch „dä Zoch kütt“ nicht durch Moorrege, sondern am Rosenmontag durch Rendsburg beim zentralen Umzug sämtlicher Karnevalsvereine Schleswig-Holsteins. „Hier im Ort“, weiß Martin, „würde uns das doch keiner genehmigen“. „Spaß an der Freud“ ja, aber alles in Maßen. Ihrem Hang zum Narrentum geben die Morreger lieber im Dunkeln und im überschaubaren Kreis nach.

„Ehrlich, anständig, sauber.“ Wer zum Prinzenpaar, den höchsten Repräsentanten des Vereins, gewählt werden will, muß strenge Moral-Kriterien erfüllen. Die diesjährige Session führt seit dem 11. November die Enkelin des Vereinspräsidenten als „Prinzessin Tanja I.“ zusammen mit „Prinz Jan II.“ an. Der ist erst 25 Jahre alt und im weltlichen Leben Anzeigenberater einer großen Tageszeitung. Als der Elferrat sie nominierte, hätten sie, die dem Karneval zuvor nie so recht etwas abgewinnen konnten, nicht nein sagen können. „Jetzt haben wir richtig Spaß an unseren Auftritten in Altenheimen, Betrieben und Kindergärten zwischen Elmshorn und Hamburg. Die Leute freuen sich, wenn wir kommen“, sucht Jan II. die skeptische Fragerin zu überzeugen.

„Ach so, Sie kommen aus Hamburg“, fühlt sich mein Gegenüber in der Prunksitzung zu Erklärungen genötigt. „In Moorrege“, nuschelt er in sein Bierglas, „ist sonst auch nicht so viel los. Da sind eben viele im Verein.“ Auch nach mehr als 1000jähriger Gemeindegeschichte ist das Kaff ohne Kern. Die zugefrorene Pinnau trennt die Siedlung von der Stadt Uetersen. „Den goldenen Pfennig“, prahlt Karnevalisten-Präsident Hans Martin, außerhalb der närrischen Jahreszeit seit 34 Jahren Ratsmitglied der sozialdemokratischen Partei, habe seine Gemeinde als eine der wenigen schuldenfreien Schleswig-Holsteins erhalten. Die großen Arbeitgeber aus der Papier- und Chemie-Industrie haben aus Prestigegründen ihren Firmensitz in Uetersen; die gewerbesteuerträchtigen Auslieferungs- und Lagerhallen liegen auf Moorreger Gebiet.

Ansonsten tote Hose und Kuhweiden. Die beiden Jugendlichen auf der Straße haben Schwierigkeiten, sich zu erinnern, wo die einzige Kneipe des Ortes liegt. Karneval, Konfetti und Girlanden sind weder stumme Dekorationszeugen noch Tresen-Thema im „Moorreger Hof“. Das Fußballspiel im Fernsehen ist spannender; ein paar Heranwachsende werfen Pfeile oder Münzen in die Flipper-Automaten. „Nein“, sagt die blonde Wirtin ihr abendliches Kommen ab, „wir sind froh, wenn wir hier mal einen ruhigen Abend haben“. Die Inhaber der kleinen Trinkhalle verabscheuen soziale Kontrolle: „Da würden doch alle bloß sagen, 'guck' mal, da sind die vom Kiosk.'“

Einfluß auf die Lokalpolitik hat die Vereinszugehörigkeit „auf keinen Fall“, sagt Hans Martin: Namentlich erwähnt wird bloß der Bürgermeister in der „Moorreger Karnevalshymne“. Zum Auftakt jeder Sitzung wird sie geschmettert. Schwer muß es auch die Lokalredakteurin haben: Seit zehn Jahren karnevalistische Haus- und Hofberichterstattung – und dann das Geständnis: „Ich bin inzwischen auch im Verein.“ Vier Stunden später darf endlich getanzt werden. Stühle und Tische werden verschoben, die starre Sitzordnung und die Stimmung im Saal gelöster. Aber: Ist das nun echter norddeutscher Karneval oder alles nur rheinisches Imitat? Der Test erfolgt mit der rhetorischen Frage: „Arbeiten Sie am Rosenmontag?“ – „Mein Lebtag hab ich das noch nicht getan“, gibt Heinz Behrens die für einen wahren Karnevalisten einzig mögliche Antwort.