Ein einziger Interruptus

Ist das ein pfäffischer Läuterungssermon, schwarze Pädagogik or what? Dani Levys „Stille Nacht“ wirkt nicht auf alle Zeitgenossen gleich. Ein Nachschlag zu der Kritik vom Samstag  ■ Von Mariam Niroumand

Mitunter ist man sich selbst ja doch ein Rätsel, ein merkwürdiger Zeitgenosse, den man dennoch morgens zu waschen, mittags zu füttern und abends zur Ruh' zu legen hat. Warum weinte der Zeitgenosse in „Sinn und Sinnlichkeit“ etwa anderthalb Stunden lang, so daß ich zwei Packungen Tempotücher (neuerdings heißen sie „Tatü“, denken Sie nur!) hingeben mußte, und warum verabscheute er jede Minute von Dani Levys „Stille Nacht“ mit einer Intensität, die diese Entgegnung hier auf die eher unbelastete Kritik des Kollegen vom Samstag nachgerade hervortreibt?

Geschmacksfragen, soviel steht fest, sind das nicht. Ansichtssachen aber auch nicht. Es hat irgend etwas mit dieser babyhaften, regressiven Kinosituation zu tun, in der man im Dunkeln hockt, selbst nicht viel tun kann, während man die anderen handeln sieht und auf subkutane Weise bei ihnen Unterschlupf sucht. Sie sollen einen versorgen. Sie sollen okaye Absichten haben. Sie sollen es gut meinen mit ihren Protagonisten, ihren Geschichten, ihren Landschaften und ihrem Publikum. Strafende oder erzieherische Absichten, alles, was allzu direkt daran erinnert, daß das Kino die Kirche abgelöst hat, verstimmen im Handumdrehen. „Stille Nacht“, so versprach Levy, soll sein Publikum „nicht in Ruhe lassen“, man soll sich da nicht einfach wohl fühlen. Also: Erwartungen enttäuschen, Sehgewohnheiten aufbrechen, wachrütteln – ist das ein pfäffischer Mahn-und-Läuterungs-Sermon, schwarze Pädagogik or what?

Zur Erinnerung: Zwei Männer lieben eine Frau, der eine ist Polizist, der andere Barkeeper, und dreimal dürfen Sie raten, wer von den beiden Julia Sicherheit bietet und wer gut im Bett ist (gut im Bett heißt hier: schleicht sich heimlich nachts mit Gasmaske über die Frau). Von deutschem Boden soll offenbar nie wieder ein Film ausgehen, in dem diese beiden Dinge zusammenfallen. Alles von da ab ist ein einziger Interruptus: Sex wird immer vom Klingeln des Telefons unterbrochen, Haß-und-Neid-Tiraden („Sag schon, ist er besser im Bett, kommst du bei ihm, hat er den Längeren?“) werden von Masturbationen begleitet, Gespräche mit der Nachbarin von zerstreuten Einfällen, Malen von Kochen, Kochen von Faxen, Liebeserklärungen von prägenitalen Sarkasmen, das ist das Wichtigste.

Exorbitante Benutzung von Fax und Telefon sollen uns bedeuten, daß die Menschen heute nicht mehr so gut miteinander reden können, und wenn man sich diese drei Leute ankuckt, wüßte man auch beim besten Willen nicht, worüber eigentlich. Die Passion, die dumpf beschworen werden soll, bleibt gänzlich unerklärlich, denn diese Leute sind zickig, uninteressant, launisch, gemein und vor allem komplett lustlos. Sogar an sich selbst fummeln sie nur widerwillig herum (kann man aber dann auch wieder irgendwie verstehen). Gern wird angedeutet, sie hätten allerhand erlebt, was sie jetzt eben vorsichtig macht („ich will glücklich sein, aber ich mach' alles kaputt“), aber man weiß nicht: was? Will's auch nicht wissen! Das soll ein verliebter Mann sein, der seine Angebetete aus Paris anruft, um ihr zu sagen: „Du weißt doch nicht mal, wie rum du dich aufs Klo setzen mußt, um die ganze Scheiße auszukacken, die du im Hirn hast!“

Hier sind wir, ich spür es ganz deutlich, doch wieder auf dem deutschen Sonderweg gelandet. Hier kommt Fassbinder für Filmhochschüler. Nach den vielen Komödien (die aus ähnlichem Holz geschnitzt sind, nur eben mehr aufs Lächerliche – aber nicht aufs Lustige – setzen) mußten wir jetzt mal zur Sache kommen. An Stelle von Ironie, die man anderswo zu vergnüglichen Anlässen trägt, wird hier sauertöpfischer, trampliger Sarkasmus ausgestellt, womöglich aus lauter Hilflosigkeit. So mag es Zwölfjährigen gehen, kann schon sein, aber ist dieser Regisseur nicht fast vierzig?

Während Ang Lees „Sinn und Sinnlichkeit“ Eleganz, Souveränität und Liebe besitzt, geriert sich Levy, als müßte er uns stubenrein machen. Immer wieder mit der Nase rein: Wir sind alle solche Würmchen!

Das einzig Komische daran: daß dies gemocht wird. Man will hierzulande im Kino gern ermahnt werden, einen Spiegel vorgehalten bekommen, aufgerüttelt werden. Ja, schlagt uns!

Diese Leute müssen offenbar andere Zeitgenossen versorgen als ich. Meine Sehgewohnheiten gehören mir! (Georg Seesslen) Der Kollege vom Stadtmagazin empfand hingegen „Sinn und Sinnlichkeit“ als „Ohnsorgtheater“, und zwar weil man dort auch schon immer wisse, was passiert! Hierzulande liebt man den Coitus interruptus (als wenn dessen armes Ende nicht auch vorab bekannt wäre). Man soll den „jungen deutschen Film“ stützen, aber ein paar gute Gründe dafür muß er selber liefern!