Vor den Wahlen wollen alle den Sozialstaat

Nicht alle Wahlversprechen in Spanien halten den Kriterien für Europas Währungsunion stand  ■ Aus Madrid Reiner Wandler

„Ich möchte kein neues 98“, warnt Felipe González eindringlich. Und zumindest die in spanischer Geschichte bewanderten Zuhörer schrecken auf. Ein neues nationales Debakel wie damals vor fast hundert Jahren, als die Unabhängigkeit Kubas das ibero-amerikanische Kolonialreich endgültig zusammenbrechen ließ? Es sei wieder soweit, bestätigt der sozialistische Regierungschef Spaniens, wenn José Maria Aznar von der konservativen Partido Popular (PP, Volkspartei) die Parlamentswahlen am 3. März gewinnen sollte. Das neue 98 ist das Jahr der Währungsunion. Nur die Sozialisten könnten die Nation um die Klippe herum in den sicheren Euro-Hafen schippern, „um bei der ersten Runde mit dabeizusein“.

Die Konvergenzkriterien widersprechen dem Optimismus von González. Spanien erfüllt derzeit keine der Maastrichter Eckdaten für den Beitritt zur Währungsunion. Eine Billion Peseten – umgerechnet 12 Milliarden Mark – müssen dringend her. Das ist der Betrag zwischen den realen 5,9 Prozent Haushaltsdefizit und den geforderten 3 Prozent. Die Inflation mit 4,7 Prozent ist zu hoch, und die Staatsverschuldung beläuft sich auf 64,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes – Maastricht fordert 60 Prozent.

Wirtschaftsminister Pedro Solbes stört das alles nicht. „Das mit dem Haushaltsdefizit und der Staatsverschuldung ist keine große Sache. Es reicht beispielsweise, zehn Pfennig mehr pro Liter Benzin zu verlangen, um das Problem in einem Jahr zu regeln.“ Allerdings, fügt der Wahlkämpfer hinzu, dürfe das zaghafte Wirtschaftswachstum von 2,9 Prozent nicht durch einen Regierungswechsel gefährdet werden.

Oppositionschef José Maria Aznar geht mit seiner konservativen Volkspartei als eindeutiger Favorit in den Wahlkampf. Die Zweifel über die Teilnahme an der Währungsunion weist er weit von sich: Auch er will bei der Euro-Einführung mit dabeisein. Und mehr noch. Im Falle eines Wahlsieges werde er den Höchststeuersatz von 56 auf 35 Prozent senken, um die Wirtschaft anzukurbeln. Auch der kleine Mann soll nicht leer ausgehen, und so verspricht er, die Beiträge für Kranken- und Arbeitslosenversicherung um 5 Prozent zu senken. Künftig soll jeder zwischen staatlicher und privater Krankenversicherung frei wählen können – und das alles, versteht sich, ohne die Sozialleistungen zu senken.

Bei solchen Versprechungen des konservativen Kandidaten sind sich Gewerkschaften und Regierung einig: „Eine Milchmädchenrechnung.“ Erst nach sachkundigem Nachhilfeunterricht seitens der Financial Times bei einem Englandbesuch Mitte Januar gab Aznar kleinlaut bei. Das mit der Steuersenkung müsse er wohl aussetzen, bis er die Maastricht-Kriterien im Griff habe, gestand er in einem Interview ein – und ließ damit das älteste Wahlversprechen der PP schon vor den Wahlen platzen.

Seit den Massenstreiks in Frankreich ist Spaniens Bevölkerung sensibler geworden, wenn es um Maastricht geht. Zwar ist sie dem Euro gegenüber nicht ablehnend eingestellt, das zeigen Umfragen, allerdings nur, wenn dies ohne soziale Opfer geht. Daß das nichts wird, zeigen zwei Studien von IWF und OECD. Die beiden Organisationen haben eine Reihe von Maßnahmen aufgelistet, die Spanien in die Wege leiten müßte, um die Maastricht-Kriterien zu erfüllen. Da findet sich „die vollständige Freigabe von Entlassungen“ genauso wie „eine Zusatzsteuer für die Sozialversicherung“.

Und all das, so meint der Unternehmerverband CEOE, könne nur die konservative Volkspartei umsetzen. Aznar sei als einziger in der Lage, die Wirtschaft europagerecht zu liberalisieren und die internationalen Investoren ins Land zu holen. Der so Gelobte schweigt. Als bester Manager von Sozialkürzungen will er seinen Wahlkampf nun doch nicht bestreiten.

Felipe González nutzt die Gunst der Stunde und verteidigt prompt bei jeder Gelegenheit den spanischen Sozialstaat – sehr zur Verwunderung der Gewerkschaften: „War es nicht die PSOE, die in den letzten 13 Jahren der CEOE jeden Wunsch von den Augen abgelesen hat?“ fragen sie erstaunt. Die beiden großen Gewerkschaften – die sozialistische UGT und die kommunistische CCOO – sind nicht grundsätzlich gegen die Annäherung an Europa eingestellt, nur sozialverträglicher als bisher müsse sie sein.

Die Sorge gilt den Arbeitsplätzen. Sie sind heute so knapp wie vor 13 Jahren, als Felipe González bei seinem ersten Wahlsieg 800.000 davon versprach. Wo einst die Niethämmer dröhnten und Hochöfen fauchten, stehen längst alle Räder still. Die Integration in Europas Binnenmarkt hatte ihren Preis. In drei großen Umstrukturierungswellen wurden ganze Zweige der meist staatseigenen Industrie geschlossen. Was übrigblieb, wurde privatisiert. 13, 15 Prozent Arbeitslose zählt die Regierung, 22,8 Prozent – „die höchste Quote aller Mitgliedsländer“ – zählt die OECD.

Auch nach dem leichten Aufwärtstrend im letzten Jahr sind weiterhin eine Million Haushalte komplett ohne Arbeit. Am stärksten betroffen sind die Jugendlichen bis zu 25 Jahren – jeder zweite wartet vergebens auf seinen ersten Job. 30 Prozent der Bevölkerung leben sehr gut bis gut, 40 Prozent mit zeitweiligen finanziellen Engpässen und 30 Prozent in Armut, mit weniger als 6.000 Mark im Jahr.

Ein großer Teil der Bevölkerung ist gezwungen, sich sein Geld in der Schattenwirtschaft zu verdienen. Mit dem Zauberwort „Arbeitsmarktreform“ wollte die PSOE in der letzten Legislaturperiode diesem Mißstand endgültig den Garaus machen. Arbeitszeit und Urlaubsregelung wurden gelockert, das Verbot der Massenentlassungen, ein Überbleibsel aus der Franco-Zeit, abgeschafft.

Für Jugendliche zwischen 16 und 27 Jahren wurde ein sogenannter Anlernvertrag eingeführt. Dieser „Müllvertrag“, wie er im Volksmund heißt, geht mindestens ein halbes Jahr und längstens drei Jahre. Bezahlt wird weniger als die Hälfte des Normallohnes, arbeitslosenversichert sind diese Jungarbeiter nicht. Die Reform, die den Sozialisten im Januar 1994 den dritten Generalstreik ihrer Amtszeit einbrachte, senkte zwar die Lohnkosten, die Beschäftigungszahlen stiegen jedoch nicht. Mit 32 Prozent Zeitverträgen – das sind dreimal so viele wie beim großen Bruder Deutschland – ist Spanien heute EU-Spitzenreiter.

„Die Alten mit Arbeit müssen einen Teil davon an die Jungen abgeben“, kramt Felipe González ein verstaubtes Rezept aus der Mottenkiste – selbstverständlich ohne Lohnausgleich. In sieben Jahren könne so die Hälfte der Arbeitslosen unterkommen. Dafür strebe er, im Falle eines erneuten Wahlsieges, einen Sozialpakt mit den Gewerkschaften an.

Die Konzepte der konservativen PP sind keinesfalls origineller: Austerität in der Verwaltung – also Stellenstreichungen – und verstärkte Herausforderung des privaten Sektors. Das soll Staatsausgaben und Inflation senken, mittelfristig die Wirtschaft ankurbeln und Arbeitsplätze schaffen – natürlich auch das im Einvernehmen mit den Gewerkschaften.

Die Gewerkschaften hören die Gesprächsangebote gerne. „Auch wir setzen auf Verhandlungen“, beteuern UGT und CCOO. Als hausgemachtes Vorbild dient ein Abkommen mit Regierung und Opposition in Sachen Renten, der sogenannte Pakt von Toledo, der das immer weiter aufklaffende Loch in der Rentenkasse zumindest bis zum Jahre 2030 stopfen soll.

Ohne drastische Einschnitte geht jedoch nichts. So ist im Rentenpakt vom Rentenalter 65 statt wie bisher 63 Jahren die Rede. Wer nicht eingezahlt hat und trotzdem kassiert – Behinderte und Invaliden –, soll künftig schärfer kontrolliert werden, um Betrug auszuschließen.

Die OECD hält das für nicht ausreichend. Dies seien nur „einige Reförmchen, um die Finanzen zu stabilisieren“, die grundsätzliche Umstrukturierung, um die Rentenkassen auch dann zu sichern, wenn die Generation Baby Boom aus dem Arbeitsleben scheidet, stehe weiterhin aus. Wie das zu bewerkstelligen sei, darüber diskutiert die spanische politische Elite dieser Tage genauso hilflos wie die deutsche.