Das flimmernde Lebensrad

Zwei Langzeitdokumentationen im Forum: „Onkel Willy aus Golzow“ und „Lange nach der Schlacht“ — das reinste Kracauer-Kino  ■ Von Mariam Niroumand

Fernand Léger träumte oft und gern von seinem Lieblingsprojekt, einen Riesenfilm zu machen, der 24 Stunden im Leben von Mann und Frau lückenlos aufzeichnen sollte. Auf diese Art hätte man, so fand jedenfalls Siegfried Kracauer, der Bestimmung des Kinos Rechnung getragen, sich dem Fluß des Lebens anzuverwandeln, gewissermaßen Straße zu werden, zu sein, was die Fotografie eben nicht konnte.

Dabei ging es nicht um Soziologie, auch nicht um die Erzeugung einer zen-buddhistischen Ereignisarmut, wie sie später Andy Warhol für seinen achtstündigen „Empire State“ oder „Sleep“ suchte. Es ging um nichts Geringeres als die Errettung der physischen Wirklichkeit in einem zunächst ganz materiellen, aber natürlich auch ideellen, geradezu messianischen Sinn. Wie im Gedicht von Walt Whitman sollte auf dem flimmernden Lebensrad Hülle und Fülle herrschen, Sphären, Unterwelt, Gesellschaft, Natur und so weiter, mit dem schlichten Ziel: daß man nicht mehr so allein ist. Schrieb Kracauer: „Was den Filmliebhaber aus seiner Isolierung erlöst, ist weniger das Schauspiel eines Einzelschicksals, das ihn nur wieder isolieren könnte, als vielmehr der Anblick von Menschen, die sich auf ständige Weise untereinander mengen und miteinander verbinden. Er sucht die Möglichkeit von Drama, nicht das Drama selbst.“

Nicht das Drama selbst... Die Regisseure Barbara und Winfried Junge zeigen seit Jahren auf dem Forum Einzelprodukte aus dreißig Jahren Filmarbeit mit neun Leuten, die 1961 mal Klassenkameraden waren und von den Junges ursprünglich in einer Defa-Auftragsarbeit über ihre Zukunftswünsche und Ansichten über den real Existierenden befragt wurden. Willy sagte damals zweierlei: „Ick möchte andern Menschen nützlich sein,“ und „Man möchte ja och mal raus, Fischkutter oder so.“

Junge kommentiert die Bemerkungen zum Teil on und off screen leider mit einer gewissen Wilhelm- Busch-artigen Onkelhaftigkeit („halber Satz, ganzer Vorsatz“), aber trotzdem ist es unglaublich, was man da sieht, fast wie die Entstehung des Frankensteinschen Homunculus, wenn aus dem kleinen Willy von eben noch ein junger Soldat, ein LPG-Mechaniker („mit dem Feuer des Prometheus“), ein Osthippie wird.

Es kommt auch zu quälenden Szenen, die vielleicht nicht sind, was Léger sich vorstellte: Ingeborg, dick und dicker werdend, mit Willy auf der Couch, und haben auf Junges Frage, was ihnen denn noch aneinander gefalle, nur zu sagen „daß se abnehmen will“ oder „dassa sparsam ist“. Sie trennen sich, die Wende kommt, Willys Jungs werden erwachsen, und Willy heiratet die frühere LPG- Genossin Karin, die jetzt auf Bürokaufmann umschult. Nach der Auflösung der LPG treffen sich alle auf dem Arbeitsamt wieder.

Seltsamer, froher Moment, als Willy und Karin dann neben den Regisseuren ins Delphi spaziert kamen, um nach der Vorstellung mit dem Publikum zu plaudern. Hier blieb nämlich die Fallhöhe aus, die man bei Travolta erleben konnte: auf der Leinwand smooth und schlagfertig, im wirklichen Leben ein langweiliger Kirchenmann und Neigungsneuköllner (R.). Diese waren, wie man sie kannte. Als sie dann außerdem noch erzählten, daß sie ohne Kamera wohl kaum zwei ABM-Stellen angeboten gekriegt hätten, war der Saal vollends aus dem Häuschen.

„Lange nach der Schlacht“, ist in vier Jahren entstanden, und zwar aus dem Wunsch, in letzter Minute hinter die Dornröschenhecke zu schauen, die die russischen Soldaten von den DDR- Bürgern trennte. Eduard Schreiber und Renate Kühn (auffällig, wie oft solche Filme von Paaren gedreht werden) haben in Brandenburg Deutsche, Russen, Ukrainer, Tataren gedreht, die sich auf das Ende der Garnison vorbereiten. Der Ort liegt an der Bundesstraße 102 und heißt Altes Lager. Seine Karriere ging von Schießplatz über kaiserliche Garnison, Flugplatz und Fliegerhorst, dem Hitler und Göring sogar mal einen Besuch abstatteten, naja, und dann nach 45 eben von 20.000 Soldaten und Offizieren der Sowjetarmee besetzt.

Zunächst sieht man, womit zu rechnen war: Vater und Sohn, beide Soldaten, der Vater singt zur Gitarre wehmütig-stolz von Offiziersehre, der Sohn von Öde und Langeweile. Es wird gesoffen, zusammengräumt, im Zeremoniell Abschied genommen, mit der alten sowjetischen und der neuen deutschen Nationalhymne auf scheußlich verstimmten Instrumenten. Alexander und Oksana waren aus der Garnison desertiert, leben heute in Kalifornien (die Filmemacher hatten ihnen damals geholfen), Ravil, der Testflieger, hat Frau Kühn ein zwanzigseitiges Manuskript über den Sinn des Lebens zukommen lassen, Michail wartet in der Steppe auf seine Pensionierung und der Kulturoffizier Vitali lebt jetzt als Asylant in Bayern und arbeitet für die Müllabfuhr.

Langsam aber sicher schält sich das Bild einer Symbiose heraus: die deutschen Kneipiers, Kurzwarenhändler und Bäcker sitzen auf dem Trockenen, das Gelände wird zur Kirmes, ein Fellineskes Areal. Dazwischen aber immer die Gleichgültigkeit der ersten Natur gegenüber der zweiten: dem Unkraut zwischen den Rissen auf der Landebahn, der Sonne zwischen den zerbrochenen Fensterscheiben, dem weißen Hund im Schlamm ist es egal, wer hier wohnt — und nur das sieht man, nicht das Drama selbst.

„Die Geschichte vom Onkel Willy aus Golzow“, BRD 1996, 140 Min., Regie: Barbara und Winfried Junge; heute um 12 Uhr in der Akademie der Künste

„Lange nach der Schlacht“, BRD 1996, 230 Min., Regie: Eduard Schreiber, Regine Kühn