Erinnerungen eines Meßdieners

„Neurosia – 50 Jahre pervers“ (Panorama): Rosa von Praunheim hat Geburtstag  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Traurige Kinder trösten sich mit der Vorstellung, sie würden gleich sterben und könnten als kleine Engelchen ihre eigene Beerdigung beobachten. Alle merken nun, was für einen feinen Kerl sie verloren haben. Versöhnt mit der bösen Welt weint sich das Kind in den Schlaf, und morgen ist auch noch ein Tag.

So ähnlich funktioniert Rosa von Praunheims mittlerweile 52. (!!!) Film „Neurosia“: Am Anfang stehen Schüsse, die den eitlen Wortschwall des Regisseur beenden und den – wie man so sagt – „heiter-sentimentalen“ Lebensrückblick des Regisseurs ermöglichen. In Filmausschnitten, Tagebuchaufzeichnungen, Statements von Weggefährten zieht das Leben der alternden Skandalnudel (50) noch einmal vorbei und siehe, es war gut. Am Ende darf Rosa dann doch überleben und der Mord wird kein Mord gewesen sein.

Schüsse mähen den Regisseur also nieder. Verschreckt flieht das Publikum, die Leiche verschwindet. Die Mutter sitzt in der verwaisten Berliner Wohnung des Filmemachers, erzählt davon, wie Rosa früher war und empfängt Kondolenzbesuche. Friedrich Steinhauer, die kleidersüchtige Nachtigall von Ramersdorf kommt im roten Pullover vorbei und will schicke Jacketts aus dem Nachlaß abstauben. Großartig-hysterisch schimpft er über den Verblichenen: für seine perversen, gottlosen Filme würde der sicher in die Hölle kommen und außerdem hätte er ihn um seine Gage betrogen.

Ein junger Mann berichtet von den alltäglichen Kapriolen des ehemaligen Meßdieners, der jeden Morgen in einen Käfig gesperrt werden mußte. In einem Filmtagebuch erzählt Rosa von Praunheim sein Leben. Vom ersten großen Erfolg mit „Nicht der Homosexuelle ist pervers...“ bis zu seinem dicken Bauch, den er inzwischen bekommen hat – „das schmerzt sehr“. Einmal weint er auch sehr, weil ein Freund ihn verließ. Wunderbare Super-8-Bilder zeigen den Lebendurst des jungen, schwulen Beatniks, der 1962 zur HdK ging, sehr wilde Bilder malte und mit seiner Galerie „Klo“ für allerlei Skandal sorgte. Die viel zu kurzen Ausschnitte aus seinen ersten Undergroundfilmen erinnern melancholisch an eine Zeit, in der Jugendlichkeit und Sex noch irgendwie auf Seiten der Subversion standen.

In der eher überflüssigen Rahmenhandlung von „Neurosia“ recherchiert die Fernsehjournalistin „Gesine Ganzman-Simpel“ (Desirée Nick) vom berliner Lokalsender „Hau-TV“ (kicher, kicher), für eine mehrteilige Fernsehserie über das skandalöse Praunheimleben. In den einzelnen Folgen erfährt man, daß Rosa seine Darsteller früher mal dazu zwang, ihn beim Sex zuzuschauen, daß er häufig zwischen Depressionen und Lebenslust schwankte, daß er einen gar mächtigen Schwanz hat und daß man ihn in der wilden New Yorker Schwulenszene nicht so recht mag. Evelyn Künneke erzählt vom Leben mit ihrem Ex- Verlobten, die notorische Lotti Huber hat keine Lust, was zu sagen. Schließlich findet Gesine Ganzman-Simpel den von einem irgendwie der AIDS-Hife nahestehenden Terrorkommando entführten Regisseur, der von seinen Entführern als Putzsklave gehalten wird und versprechen muß, daß er nie mehr den Moralapostel machen wird und auch keine Filme. Am Ende wird die Serie gecancelt, denn im letzten Teil sollten mal wieder Führungskräfte geoutet werden. Die Nachtigall kommt noch mal vorbei, singt ein Ave Maria und bekommt dafür ein Jackett.

Mit seinem falschen Filmtod versucht Rosa, seinen Namen zurückzuerobern, der ihm infolge diverser Skandale (Angriffe auf die AIDS-Hilfe, Outing) von der Schwulenszene aberkannt worden war, was ja auch schon ziemlich affig war. Opfer und Martyrium sind nötig, damit aus Holger Mischwitzky wieder Rosa werde. Das Opfer, das Rosa als heiliger Sebastian seiner Community bringt, zielt auf Versöhnung und ist – wie jedes Opfer – ambivalent. So ambivalent wie die tausend anderen subkulturellen Lebensberichte seit Rousseau und den anderen Beatniks, die dem Credo folgten, man müsse das Private nur öffentlich machen, um den Emanzipationsprozeß von diesem und jenem voranzutreiben. Seltsamerweise hat man als Zuschauer hier trotzdem nie das Gefühl, dem Regisseur nah zu sein, mag er auch noch so oft nackt posieren oder aus seinem Sexleben erzählen.

Die Intensität seiner Schauspieler, deren Sehnsucht nach dem Glück schon Glück zu sein schien, hatte Rosa von Praunheim als Schauspieler nie. Dazu ist er in allen Entblößungen zu sehr Schauspieler der Vorstellung, die er selbst von sich hat: über sein Älterwerden trauernder Narziß, der sich darin gefällt von allen und der AIDS-Hilfe gehaßt zu werden und dabei vergißt, daß sich selbst die schwule Welt nicht mehr so wahnsinnig für ihn interessiert. Dennoch ist das alles natürlich sehr sehenswert und lehrreich.

„Neurosia – 50 Jahre pervers“. BRD 1995, 89 Min. Regie: Rosa von Praunheim. Mit Desirée Nick, Lotti Huber, Evelyn Künneke

Heute, 23.30 Uhr, Atelier am Zoo