■ Schirm & Chiffre
: Eierbrüten im Internest

Unendliche Weiten, ein Kosmos von Informationen nur einen Mausklick entfernt! Wenn Medien vom Internet sprechen, hört sich das üblicherweise an wie die Fortsetzung von Star Trek in der Wirklichkeit.

Egal ob es um die Schaffung neuer Märkte, Einschaltquoten oder Wählerstimmen geht, im Internet findet sich für jeden Wunsch und jede Horrorvorstellung eine Projektionsfläche. Andy Müller-Maguhn, langjähriger Aktivist des Chaos Computer Clubs, sah in seinem Beitrag zum Videofest-Forum „Die Kunst und das Netz“ nüchtern in die Welt der Datennetze und erblickte vor allem eins: soziales Rauschen.

Die Mehrzahl der Internetteilnehmer transportiere die immer gleiche Botschaft: Ich bin auch hier! Der Mausklick löst den Griff zur Fernbedienung ab, Interaktivität wird im World Wide Web zum Synonym für Zapping. Die mangelnde soziale und mediale Kompetenz der Nutzer sei unübersehbar, man müsse sich von der Vorstellung trennen, daß soziale Netzwerke das zwangsläufige Ergebnis technischer Netze seien.

Inwieweit durch Technik anonymisierte Menschen Verantwortung übernehmen können, versucht der holländische Künstler Erik Hobijn herauszufinden. Internet-User sollen telematisch das Ausbrüten eines Eis und die Versorgung des heranwachsenden Huhns übernehmen. Mittels spezieller Interfaces wird die Kommunikation zwischen Mensch und Huhn möglich. Für Hobijn ist das Projekt dann erfolgreich, wenn genügend User sich um das Tier kümmern: „Ein glückliches Huhn macht einen glücklichen Versorger.“

Internet-Kunst ist – wie so manches Kunstwerk der Moderne – auch Selbstreflexion. Als Wurzeln machte der Kunsthistoriker Gottfried Kerscher Dada, Futurismus und vor allem Concept Art aus. Statt eines Endergebnisses, das sich als Werk manifestiert, stünden auch hier Struktur, Prozeß und Dynamik im Vordergrund. Das Bild, wie wir es kennen, wird im Netz seines Signifikanzkontexts beraubt und verwandelt sich in ein briefmarkengroßes Icon. Individualisierte Bildinhalte und differenzierte Darstellung gehen verloren.

Für Kerscher steht diese Entwicklung auch für den generellen Verlust eines Blicks auf die Gesellschaft, der ihre Komplexität sichtbar werden läßt: Die Habermasschen Satzkonstruktionen würde zwar niemand vermissen, wohl aber seine differenzierten Beschreibungen sozialer Prozesse.

In der Interpretation von Konrad Becker vom Institut für Neue Kulturtechnologien steht diese Ikonisierung der Welt wiederum in engem Zusammenhang mit der zunehmenden Bedeutung der Aufmerksamkeit als ökonomischem Target: Entstanden aus dem militärischen Arpanet sei das Internet als Instrument des Atomkrieges seinem Wesen nach vor allem Propagandawerkzeug.

Die amerikanischen Universitäten, die immer noch signifikant an der Finanzierung der Hardware und des Datenverkehrs beteiligt sind, sind daher nicht mehr gewillt, weiterhin freie Zugänge anzubieten und ein Medium zu subventionieren, das längst zur Marketingplattform geworden ist. Anstatt möglichst vielen Menschen das bereits formulierte Grundrecht auf Kommunikation zu gewähren, entziehen sich staatliche Institutionen dem Kommunikationssektor via Privatisierung. Eingriffe finden nur noch in Form von Zensur statt. Als Folge der zunehmenden Kommerzialisierung des Internet etablieren sich so neue, soziale Ausschlußverfahren.

Dabei sei angesichts des Informationsoverkills nicht die Kluft zwischen Datenbesitzern und Informationshabenichtsen das Problem, so Müller-Maguhn. Vielmehr gehe es um die Schaffung niedrigschwelliger Zugangsmöglichkeiten, die Installation eines digitalen öffentlichen Raums: Datenbürgersteige statt Datenautobahnen. Angesichts der Infobahnvisionen der Telekom erscheinen solche Forderungen mehr als gerechtfertigt, wird in ihnen doch Interaktivität vollends zur Farce: „Order and pay!“ heißt hier die Parole. Ulrich Gutmair