Schrecksekunde für die Champs

Nach der herben Niederlage im Pokalfinale gegen Ulm bleibt für Leverkusens Basketballer nur noch der Kampf um den Meistertitel  ■ Aus Berlin Matti Lieske

Henning Harnisch mußte sich nach der Schlußsirene erst mal setzen. Konsterniert starrte er vor sich hin und grübelte über das nach, was wenige Sekunden zuvor passiert war. Ein Wurf des Ulmers Gary van Waaden im allerletzten Augenblick des Pokalfinales hatte die Leverkusener den schon sicher geglaubten Pokalsieg gekostet und das schier Undenkbare vollbracht: Das Team vom Rhein hatte ein wichtiges Match auf nationaler Ebene verloren.

Im letzten Jahr war es bei gleicher Finalbesetzung genau umgekehrt gewesen. Da hatte Ulm kurz vor Schluß geführt, doch ein Tip-in des Centers Sascha Hupmann hatte in letzter Sekunde das Blatt noch gewendet. Daß es diesmal anders kam, ist durchaus symptomatisch für den momentanen Zustand des deutschen Meisters. Was derzeit schiefgehen kann in Leverkusen, geht auch schief. Die Integration der neuen Amerikaner Tony Dawson und Chris Corchiani erwies sich als hochproblematisch. In der Europaliga scheiterte man frühzeitig am unerreichten Dauerziel, dem Einzug ins Viertelfinale. Und als es gerade besser zu laufen begann, verletzte sich Bundesliga- Topscorer Dawson. Beim Final- Four-Pokalturnier in Berlin fiel zu allem Überfluß auch noch Corchiani aus, der mit 26 Punkten, sechs Rebounds, fünf Assists und drei Steals maßgeblich zum 90:83-Halbfinalsieg gegen Alba Berlin beigetragen hatte. Kurz vor Schluß dieser Partie knickte der kleine Spielmacher mit dem Fuß um und erschien zum Finale statt in Turnschuhen auf Krücken.

Leverkusen bestritt das Spiel gegen Ulm praktisch mit sechs Spielern und hielt sich dennoch bravourös. Zwar kam Michael Koch als Ersatzspielmacher in der Offensive wenig zum Zug, doch Denis Wucherer (22 Punkte) und vor allem Henning Harnisch sprangen in die Bresche. Harnisch kämpfte verbissen, holte sechs Rebounds und 24 Punkte, nahm die kniffligen Würfe und war immer da, wenn es um die Wurst ging. Den Rest erledigte die geballte Center-Macht mit Welp, Hupmann und Gnad.

Die Süddeutschen, die im Halbfinale Bamberg ausgeschaltet hatten, mußten ihr Leistungspotential schon bis zur Neige ausschöpfen, um mithalten zu können. „Die Ulmer waren über 40 Minuten so stark, wie ich sie noch nie gesehen habe“, lobte Bayer-Coach Dirk Bauermann. Vor allem in der ersten Halbzeit wirbelten der unwiderstehliche Alvin „Bo“ Dukes und der coole Jarvis Walker die gegnerische Abwehr fast nach Belieben durcheinander. Fünfmal traf Walker von der Dreipunktelinie, und wenn mal etwas schiefging, lauerte unterm Korb der Ex- Leverkusener Jens Kujawa, der sich zu einem exzellenten Center entwickelt hat. Elf Rebounds riß er an sich und erzielte 15 Punkte.

Bis zu zehn Zähler Vorsprung spielte sich der Außenseiter Anfang der zweiten Halbzeit heraus, doch dann zeigte sich, daß die Ulmer unter einer gewissen Variantenarmut leiden. Der Ball fliegt meist zwischen Dukes und Walker hin und her, und wenn letzterer nicht trifft, wie in der Schlußphase, gerät das Team in Not. Als Walker und Dukes nacheinander mit Dreipunktversuchen gescheitert waren, Harnisch eine halbe Minute vor Schluß den Ulmern den Ball entwendete und Leverkusen mit 78:76 in Führung ging, schienen die Dinge ihren gewohnten Gang zu gehen. Dukes glich zwar mit zwei Freiwürfen aus, doch dann wühlte sich Hupmann durch und konnte nur per Foul am Korbleger gehindert werden. Als er einen der Freiwürfe versenkte, stand es 79:78, und den Ulmern blieben noch fünfeinhalb Sekunden.

Eigentlich sollte der flinke Dukes den Ball bekommen, aber den schirmte Leverkusen ab. Also stürmte Walker nach vorn und alle glaubten, daß dieser, trotz seiner Wurfmisere in der zweiten Halbzeit, den letzten Versuch wagen würde. Auch Gary van Waaden. „Ich habe gehofft, Jarvis macht ihn rein“, erzählte der 34jährige später, „dann sah ich den Ball kommen.“ Eine Schrecksekunde konnte er sich jedoch nicht mehr leisten. Kaum hatte die Kugel seine Finger berührt, war sie auch schon wieder weg und fiel mit der Schlußsirene in den Korb. Während Harnisch entgeistert niedersank, vermochte van Waaden sein Glück kaum zu fassen. „Er ist einer der loyalsten und aufopferndsten Spieler“, lobte Ulms Coach Brad Dean, „ich freue mich, daß gerade er das Spiel gewonnen hat.“

Die vielen Ulmer Fans feierten den ersten großen Titel ihres Teams so fanatisch, daß sehr deutlich wurde, wie wenig es in Ulm sonst zu feiern gibt. Für Leverkusen dagegen blieb nur Häme und Spott. Als Bayern München des Basketballs geschmäht, in Berlin wegen langjähriger Rivalität ohnehin unbeliebt, mußte sich das unterlegene Team noch bei der Siegerehrung unverdiente Buhrufe anhören und war sichtlich verbittert. „Wir werden die Reaktion des Publikums als Motivation für die Play-offs nehmen“, sagte ein grimmiger Bauermann. Die Meisterschaft ist in dieser Saison alles, was von den vielfältigen Leverkusener Ambitionen übriggeblieben ist. Doch angesichts der Pechsträhne des Meisters keimen nicht nur in Berlin auch in dieser Beziehung Hoffnungen.