Die Utopie der finnischen Sauna

Der gute Mensch Puntila und die Rettung vor dem Theatermuseum in letzter Minute: Einar Schleefs Inszenierung von Bertolt Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ hat gute Chancen, das Theaterereignis des Jahres zu werden  ■ Von Ester Slevogt

Samstagabend im Berliner Ensemble. 19.00 Uhr. Die Erwartungen sind groß, die Hoffnungen jedoch eher klein. Als die ZuschauerInnen noch auf dem Weg zu ihren Plätzen sind, sitzt auf der Bühne schon Jutta Hoffmann. Später wird sie Puntilas Tochter spielen. Vorläufig aber sieht sie bloß aus wie irgendeine Figur aus einer historischen Brecht-Inszenierung. Sie erzählt die Geschichte eines jungen Kommunisten, der im Gefangenenlager sitzt und nichts zu essen bekommt. Der aber das Essen, das seine Mutter ihm bringt, nicht nimmt, weil sie es von der Gutsherrin erbettelt hat, und „er nimmt nichts von denen“.

Ein krasser Wechsel. An einem monumentalen runden Tisch begegnen wir nun einem Exemplar jener Spezies Gutsbesitzer. Er ist von seltsam uniformierten Männern und Frauen umgeben. Sie sprechen Texte, die aus dem Stück, das hier aufgeführt werden soll, stammen – Bertolt Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ nämlich. Aber man erkennt das Stück nicht mehr. Kein Trinkgelage, ein gespenstisches Femegericht, wobei zunächst unklar bleibt, was hier nun eigentlich verhandelt wird. Als der Abend nach einer knappen Stunde in die erste Pause geht, ist die Verwirrung groß. Ein Programmheft gibt es nicht. Auch der Blick auf den Besetzungszettel hilft nicht weiter. Da stehen bloß in alphabetischer Reihenfolge 41 Darsteller aufgelistet. Die Kritiker fluchen auf den Fluren. Der Abend gilt als gelaufen, bevor er richtig begonnen hat.

In den folgenden zwei Stunden dann ein Duell zwischen Publikum und Inszenierung, das von Einar Schleef mit wachsender Lust ausgefochten wird. Es gibt keinen Knecht Matti mehr, sondern eine kleine Armee von Mattis. Männer, mal splitternackt und mal in schäbigen Soldatenmänteln. Schleef ist als Puntila sein eigener kongenialer Hauptdarsteller. Kraftstrotzend und selbstironisch, wie man es ihm nach seinen stiefeldeutschen „Wessis in Weimar“ nicht zugetraut hätte. Er wird nie ganz zum Puntila, bleibt immer noch der Regisseur, der seine Inszenierung kommentiert und verteidigt. Eine Handbewegung, und Menschenmassen setzen sich in Bewegung. Zopfbekränzte Frauen, halbnackte Männer. Der gute Mensch Puntila. Manchmal steht er wie ein Politiker im Wahlkampf da, der dem Volk Versprechen macht. Von Alkohol keine Spur. Den hat Puntila Schleef gar nicht nötig. Er berauscht sich am Wort. Dem Wort, das wie von selbst von der Lüge zur Wahrheit zurückfindet.

Im Saal schwankt die Stimmung zwischen Empörung und Begeisterung hin und her. Die Aufführung hat gerade ihren Höhepunkt erreicht – ein Bacchanal im Badetuch, wo die Utopie der klassenlosen Gesellschaft auf das hübscheste vorgeführt wird: in der Sauna Finnlands sind alle Menschen gleich. Und als der Ausgang des Gefechts zwischen Schleef und dem Publikum noch längst nicht entschieden ist, werden die Zuschauer zum zweiten Mal in die Pause geschickt. Nach fünf Stunden ist es endlich vorbei. Erste Buhrufe verstummen im begeisterten Applaus. Die Schauspieler blickten fast ungläubig von der Bühne herab. Dann lassen sie sich feiern, zusehends entspannt und mancher mit Tränen der Erleichterung in den Augen. Die Sensation ist perfekt. Fünf Stunden Schleef und kein bißchen Langeweile. Im Gegenteil: Einar Schleefs Inszenierung von Bertolt Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ hat gute Chancen, das Theaterereignis des Jahres zu werden.

In der Klassenkampfkomödie, die Brecht 1940 im finnischen Exil schrieb, liegen die Dinge auf der Hand: „'s wird Zeit, daß deine Knechte dir den Rücken kehren. Den guten Herrn, den finden sie geschwind, wenn sie erst ihre eigenen Herren sind“, sagt Matti, der Knecht, am Schluß und verläßt seinen Herrn. Puntila, der nur im Suff ein Mensch, nüchtern jedoch ein brutaler Kapitalist ist. Das marxistische Weltbild ist noch in Ordnung. Die Rollen Gut und Böse sind klar verteilt. Bei Schleef ist nichts mehr klar. Die Einbahnstraße der materialistischen Geschichtsauffassung ist zum Gegenverkehr freigegeben. In einem kolossalen Schlachtengemälde werden alle Parteien versammelt, die die verschiedenen Klassenkämpfe dieses Jahrhunderts gekämpft haben. Männer und Frauen, Herren und Knechte, Ohnmächtige und Mächtige. Doch die Fronten zwischen den Parteien sind längst verwischt. Jedes Bild gebiert sein Gegenbild aus sich selbst. Stoff fürs Auge und fürs Hirn.

Am Ende erlebt man die Wiedergeburt des Dramatikers Brecht aus dem Geiste Schleefs. Rettung vor dem Theatermuseum in letzter Minute. Das Wunder am BE.

„Herr Puntila und sein Knecht Matti“. Von Bertolt Brecht.

Regie: Einar Schleef. Mit Jutta Hoffmann, Einar Schleef, Thomas Wendrich und anderen.

Nächste Vorstellungen 21.–25. 2., 19 Uhr, Berliner Ensemble