■ Egon Krenz zeigt sich „erschüttert“ über die Mauertoten
: Rechenschaft für seine Taten

„Jeder Tote an der Grenze“ habe ihn „erschüttert“, so versicherte Egon Krenz gestern vor Gericht. Daß er und seine Kollegen aus dem Politbüro der einst fast uneingeschränkt regierenden Staatspartei der DDR jemals Freude an solchen Erschießungen gehabt haben, will ich nicht unterstellen. Aber leider kann ich nicht leugnen, daß mir die Präsentkörbe und Belobigungen einfallen, die die oberste Führung erfolgreichen Mauerschützen zukommen ließ.

Aber was heißt das Wort „Erschütterung“ im Mund von Egon Krenz angesichts seiner Richter? Ist er endlich dazu erschüttert worden, die Zuständigkeit seiner Richter anzuerkennen? Hat der langjährige Politbüro-Verantwortliche für „Sicherheit“ eingesehen, daß er eine Verantwortung trägt, die er nicht auf die Regierung der Sowjetunion und auch nicht auf Michail Sergejewitsch Gorbatschow abschieben kann, der ihm einen freundlichen Brief geschrieben hat? Ist endlich seine merkwürdige Gewißheit erschüttert, er könne für Taten, für die er in einem hoheitlichen Amt mittelbar oder unmittelbar verantwortlich war, nicht zur Rechenschaft gezogen werden?

Als im Herbst 1989 in der DDR das Volk sich zum Wort meldete, wollte es auch, daß jene, die damals noch behaupteten, in seinem Namen zu regieren, zur Rechenschaft gezogen würden – nicht nur für ihre Behauptungen, sondern zuallererst für ihre Taten.

Als Egon Krenz am 22. Januar 1990 vor dem Zentralen Runden Tisch seine Entschuldigung für diese Taten an die Bürgerinnen und Bürger der DDR richtete, haben wir ihm das als eines ehrlichen Mannes Rede abgenommen. Inzwischen hat er so viel dazu gesagt – und getan –, daß man nicht mehr weiß, warum er sich damals eigentlich entschuldigte. Reicht seine jetzige Erschütterung aus, ihn zu der Ehrlichkeit vom Januar 1990 zurückfinden zu lassen?

Es steht mir nicht zu, über Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit von Egon Krenz zu richten. Aber soviel ist klar: Wenn das Wort „Erschütterung“ auch nur ein Fünkchen Ehrlichkeit enthielte, müßte es zu den wichtigsten Worten des Prozesses gezählt werden. Wolfgang Ullmann

Der Theologe war 1989 Mitbegründer der Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“. 1990 amtierte er kurzzeitig als Minister ohne Geschäftsbereich im vorletzten DDR-Kabinett unter Lothar de Maizière. Heute ist er Abgeordneter des Europäischen Parlaments in Straßburg und dort im Rechtsausschuß tätig