Atom-Castor nach Ungarn

235 gebrauchte Brennelemente fuhren gestern mit dem Zug von Greifswald über Dresden Richtung Ungarn, Grenzschützer mit dabei  ■ Von Hermann-Josef Tenhagen

Etikette war noch nie ihre Stärke. Ohne die seit Wochen anberaumte Sondersitzung des Kernenergiebeirats Mecklenburg-Vorpommern abzuwarten, hat die Geschäftsführung der Energiewerke Nord (EWN) Montag morgen um 3 Uhr 235 angebrannte Atombrennelemente aus dem AKW Greifswald auf die Reise nach Ungarn geschickt. Zwanzig Protestler, die von einer Brücke aus mit einem Transparent die Bahnstrecke verhängt hatten, wurden kurz zuvor von zweihundert Polizisten abgeräumt. Der Zug der Deutschen Bahn AG mit den drei Castor-Behältern, die die Brennelemente enthielten, und vier Waggons mit Grenzschützern ging mit hoher Geschwindigkeit auf die Reise. Die Bevölkerung wurde vorab nicht informiert.

Wochenlang hatten Greenpeace und örtliche Bürgerinitiativen versucht, den Transport zu verhindern. Noch am Sonntag hatte Greenpeace gewarnt, daß der Transport für die Nacht zum Montag bevorstehe. Mit dem Atombrennstoff aus Greifswald würden im ungarischen Paks unsichere Reaktoren russischer Bauart weiterbetrieben. „Mit dem Transport liefern die AKW-Betreiber den Brennstoff für ein mögliches zweites Tschernobyl“, so Greenpeace-Sprecher Helmut Hirsch. Die Reaktoren in Paks stammen aus der gleichen Baureihe wie diejenigen, die Umweltminister Klaus Töpfer Anfang der neunziger Jahre in Greifswald hatte stillegen lassen – wegen Sicherheitsmängeln.

Doch nicht nur die Nutzung der angebrannten Brennelemente birgt Gefahren. Greenpeace warnt vor allem vor der weiteren Verwendung des dann entstehenden Atommülls. Der ginge nach der Nutzung nach Rußland – in die Katastrophen-WAA Majak in Tscheljabinsk. Möglicherweise, so spekulierte der SPD-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Behrendt gestern sogar, würden die Brennelemente nicht nur wiederaufgearbeitet, sondern das strahlende Material anschließend auch noch „zu militärischen Zwecken genutzt“.

Die Greifswalder Werksleitung konnte Sicherheitsprobleme für die ungarischen Reaktoren des Bautyps WWER 213 selbstverständlich nicht erkennen. Auch die baugleichen Greifswalder Reaktoren hätten in Deutschland „nach einer entsprechenden Nachrüstung weiter betrieben werden können“, argumentierte EWN- Chef Dieter Rittscher kürzlich. In Deutschland habe sich nur kein Investor mehr gefunden.

Auch die sechs Meter langen, mit gelber Plane verhängten Castor-Behälter, die er Montag früh auf die Reise schickte, hält Rittscher prinzipiell für sicher – selbst wenn er einräumen mußte, daß der Castor-Typ, der nun unterwegs ist, „keine neuen Sicherheitstests“ mehr absolviert habe. Man habe eben die Sicherheitserkenntnisse von den anderen getesteten Castor-Typen übertragen. Für Rittscher ein problemloses Verfahren, schließlich war er in früheren Jahren an der Konstruktion der Behälter beteiligt.

Das Interesse der in staatlichem Besitz befindlichen EWN ist vor allem ein wirtschaftliches. Seit Anfang der neunziger Jahre hatte die EWN immer wieder versucht, einen Teil des atomaren Erbes der DDR nach Osteuropa weiterzuverscherbeln. Transporte waren u.a. nach Tschechien gegangen.

Der gestrige Transport ist für die EWN ein besonders gutes Geschäft. Die Brennelemente waren im Reaktor 5 des Greifswalder AKWs nur siebzehn Tage im Einsatz gewesen. Nach deutschem Recht wären sie normalerweise als hochradioaktiver Atommüll zu entsorgen gewesen, was die EWN rund 30 Millionen Mark gekostet hätte. Diese Summe spart die EWN durch die Weiterverwendung in Ungarn. Die Ungarn wiederum hatten auch ein ökonomisches Interesse an dem Deal. Sie bezahlen für die Brennelemente nur den symbolischen Preis von einer Mark, müssen allerdings für den komplizierten Transport über Frankfurt (Oder), Dresden und Bad Schandau nach Paks aufkommen.

Greenpeace will auf weitere Proteste gegen den strengbewachten Zug verzichten. So könnten die Behälter morgen in Ungarn ankommen – wenn nichts passiert. EWN-Sprecher Manfred Meurer hoffte gestern, daß nach dem Transport nun wieder Ruhe in Vorpommern einkehrt. Schließlich sei der nächste Castor-Transport in frühestens zwei Jahren zu erwarten. Aufgebrachte Bürgerinitiativler mochten das gestern nicht garantieren. Das Atomplenum Greifswald schloß gestern gewalttätigen Protest nicht mehr aus. „Wenn ihr unser Recht nicht achtet, warum sollen wir dann eure Gesetze achten.“