„Höchste Verantwortung für den Frieden“

■ Ein Prozeß wird zur Bühne politischer Selbstdarstellung: Egon Krenz, letzter Staats- und Parteichef der DDR, hält vor Gericht seine letzte große politische Rede

Berlin (taz) — Schnell hat sich Egon Krenz, letzter Staatsrats- und Parteivorsitzender der DDR, vor dem Berliner Landgericht in Fahrt geredet. Das dicke Manuskript seiner persönlichen Erklärung hat er, ordentlich in einer Kladde abgeheftet, vor sich, höflich kommt ihm die Anrede „Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren“ über die Lippen. Und schon im zweiten Satz ist er mitten im Kern dessen, was er stets als Siegerjustiz geißelt.

Mit jedem Satz erhebt Krenz, der zusammen mit fünf weiteren ehemaligen Politbüromitgliedern wegen der Toten an der deutsch- deutschen Grenze zur Rechenschaft gezogen werden soll, eine Klage gegen seine Ankläger. „Die DDR wird behandelt, als wäre sie bis 1990 ein Protektorat der Bundesrepublik gewesen“. Oder: Die DDR „wird um jeden Preis als politisches Ungeheuer gebrandmarkt“. „Ich sehe mich angeklagt“, wird er neunzig Minuten später am Ende seiner Rede sagen, „weil ich mich an einer antikapitalistischen Alternative auf deutschem Boden beteiligt habe.“

Als Mitglieder des Politbüros sollen Krenz und Kollegen für das Grenzregime der dahingegangenen DDR verantwortlich gewesen sein. Sie sollen damit auch die Verantwortung für den Schießbefehl auf DDR-müde Flüchtlinge getragen haben. Das behauptet jedenfalls die Staatsanwaltschaft. Egon Krenz hält dagegen, wie vor ihm auch schon der frühere Chefideologe Kurt Hager, der Vorsitzende der Parteikontrollkommision Erich Mückenberger und Kaderleiter Horst Dohlus: „Grobe Unterstellung“, „Geschichtsfälschung“, die Staatsanwaltschaft sei „unfähig, die Nachkriegsgeschichte zu erfasse“.

Überhaupt, für Krenz scheint alles festzustehen, auch wenn es im zweiten Prozeßanlauf bisher nur neun Verhandlungstage gab. Der 27. Großen Strafkammer gibt er mit: „Sie wollen verurteilen, Sie werden verurteilen, so wie es die Politik von Ihnen fordert.“ Entweder ist es Rhetorik oder der Angeklagte glaubt selbst nicht so recht an eine Vorverurteilung. Lange referiert der 58jährige über die bedrückenden Lasten des Kalten Krieges, um sich dann überraschend dem Vorsitzendem Richter Hoch zuzuwenden. „Sie sind jung, werfen Sie den Ballast des Kalten Krieges ab. Setzen Sie ein Signal. Setzen Sie dem Prozeß ein Ende.“ Für Egon Krenz wäre das ein wichtiger Schritt für die Verwirklichung der deutschen Einheit.

Über weite Passagen ist die Rede der Versuch einer Erklärung, die sich weniger an das Gericht als vielmehr an die früheren Untergebenen und Weggefährten richtet. Punkt für Punkt führt er an, weshalb es an der „wohl heißesten Grenze des Kalten Krieges“ keinen Handlungsspielraum für die DDR gegeben habe.

So sei der Eiserne Vorhang zum Westen beileibe kein „Willkürakt des SED-Politbüros“ gewesen. Es habe sich vielmehr um die Konfrontationslinie zweier hochgerüsteter Militärbündnisse gehandelt. Das Grenzregime sei immer eine Frage des Warschauer Paktes gewesen, die Führung der DDR habe alleine nicht handeln können.

Auch die Doppelstrategie westdeutscher Politiker dürfe bei der Wertung nicht vernachlässigt werden. Ob Kanzler Kohl, Ministerpräsident Strauß oder Helmut Schmidt: Nach außen hätten sie alle gern „starke Worte über Mauer und Stacheldraht verloren“. Bei den Treffen hätten sie dann aber stets die Verläßlichkeit der DDR-Politik geschätzt. Eben so, wie der Bundeskanzler heute mit den chinesischen Machthabern umzugehen pflege.

„Wir wollten keine Toten, weder an der Grenze noch anderswo.“ Nachdenklich kommt der Satz, auch der: „Jeder Tote hat mich erschüttert.“ Daß die Anklagebehörde den Politbüromitgliedern aber unterstellt, die Tötungen „billigend in Kauf genommen zu haben“, läßt Krenz aufbrausen. Dies sei eine „böswillige Unterstellung. Dafür fordere ich eine Entschuldigung.“ Immerhin sei es das Politbüro unter seiner Anleitung gewesen, das die Grenze zum Westen öffnete und das sich damit konsequent gegen Gewalt in einer innenpolitischen Krisensituation ausgesprochen habe. Den Fall der Mauer beurteilt Krenz heute wie folgt: „Die DDR hat sich mit höchster Verantwortung für den Frieden aus der Welt verabschiedet.“ Wolfgang Gast