■ Berlinale-Anthropologie: Die Verdrängung des Schauens durch das Lesen
Der Anthropologe Enzensberger soll diese Einsicht als erster formuliert haben (wie so oft). Gewiß dehnt sich die Welt der Bilder unablässig aus, 25 Fernsehkanäle, heute kannst du dir, wenn ich richtig gezählt habe, auf der Berlinale ungefähr 60 Filme anschauen. Aber schon um ihrer ansichtig zu werden, mußt du ununterbrochen lesen (wie in puncto Fernsehkanäle auch das prächtige Angebot an Programmzeitschriften lehrt).
So sieht man dieser Tage überall verloren herumlungern, die Leser, meist in das dankenswerte dünne blaue Programmheft der Berlinale vertieft. Ein schwieriger Text. Ich wüßte das literarische Genre nicht zu bestimmen.
Gewiß, das älteste literarische Genre der Überlieferung, eine Liste (Listen werden aus früheren Zeiten überliefert als Grabinschriften oder gar Gesetzestafeln). Aber dann mußt du solche komplizierten Kreuz- und Quersprünge darin vollziehen, um beispielsweise herauszufinden, daß du, willst du am Mittwoch um 12 Uhr mittags doch noch „Nixon“ sehen, den französischen Wettbewerbsbeitrag „Mon homme“ verpaßt; schaust du dir aber „Mon homme“ am Donnerstag an, wird es mit dem frankoitalienischen „Vita strozzate“ nix.
Alle in der Praxis keine unlösbaren Probleme, weil sich immer noch Wiederholungen zu anderen Zeiten finden – deshalb aber mußt du ununterbrochen diese Liste, diesen Text neu lesen, hinüber und herüber in der Programmtabelle. Womöglich sogar schreiben! Bei einem Drink an der Hotelbar dein höchstpersönliches Wunschprogramm aufstellen, das schließlich ausschaut wie früher der schulische Stundenplan. Wobei er immer wieder umgebaut werden muß, so daß du schließlich nach einem neuen Exemplar des nachtblauen Offizialprogramms greifst und deine Planungen entschlossen darin einträgst (die elegante Kollegin nebenan, die das Tabellieren ihrem Laptop überläßt, hat es nicht viel einfacher; sie trinkt keinen Alkohol, sondern einen Obstsaft, was ihre Eleganz unterstreicht und dich in einen abgewrackten alten Säufer verwandelt).
Dabei verfährt das dankenswert dünne Offizialprogramm äußerst lakonisch in seinen Mitteilungen. Atelier am Zoo, 21 Uhr. The Haircut, USA, Lisa Fisher, 10 Min. Chinese Chocolate, Kanada, Regie Yan Cui, Qi Chang. Mit Diana Peng, Shirley Cui, Bo Z. Wang. 99 Min., dt. Untertitel. Was soll ich mir darunter vorstellen, chinesische Schokolade aus Kanada? Schon um den Mittwochabend zu planen, brauchte ich Zusatzinformationen.
Von denen sich allüberall die Tische biegen (gewiß versorgt sich die elegante Kollegin zusätzlich aus dem Internet, oder einfacher: nur was im Internet kommt, läßt sie als Zusatzinformation persönlich gelten). Das Pressezentrum im Intercontinental hat einen Raum für Schließfächer reserviert, Lektüre ganz für dich allein, in dem zugleich zwei Tische Druckwerk aller Art offerieren. In den mehrstöckigen Berlinale-Etagen des Bikini-Hauses finden sich solche Tische mit solchen Angeboten die Fülle. Mißtrauisch-gierig umschleichen wir sie wie ein überreiches Buffet, bei dem du immer befürchten mußt, daß dir, wenn du jetzt von dieser frühlingsbunten Masse zuviel auf deinen Teller häufelst, für die von dort drüben verlockend herübergrüßenden rostroten Brocken, vermutlich der kulinarische Höhepunkt, kein Platz bleibt.
Sechs Sondervorführungen von restaurierten Filmklassikern stehen auf dem Programm der Berlinale. Fünf bekannte Schauspieler besetzen in diesem Jahr die Jury, Nikita Michalkow (Rußland), Gila Almagor (Israel), Joan Chen (USA), Claude Rich (Frankreich) sowie Jürgen Prochnow (Deutschland). Besonders interessieren sollte dich die Vielfalt und Vitalität des chinesischen Kinos, ob es nun aus Rotchina, Hongkong oder Taiwan kommt. Mit dem Independent Showcase präsentiert IMR (Independent Media Resources) zum zweiten Mal eine Reihe von Independent-Filmen in Berlin, wir fragten Sandy Mandelberger.
Und dabei war von den Sonderseiten der Zeitungen noch gar keine Rede, täglich Kritiken, Interviews, Porträts, Kolumnen, die in solcher Masse die Entscheidung, was du dir denn heute anschaust, indem sie sie erleichtern, erheblich erschweren.
Wird es da nicht Zeit, daß wir uns Sorgen machen wegen der Beschädigungen der visuellen Phantasie durch die textuelle? Michael Rutschky
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