Vor dem Verrat die Angst

Andrzej Wajda erzählt in seinem Wettbewerbsbeitrag „Wielki tydzien“ (Karwoche) die Leiden einer Jüdin im Versteck als katholisches Drama  ■ Von Anke Westphal

Fremde Heimat“ von Damir Lukacevic ist ein Kurzfilm über einen Bus, der durch besetztes Gebiet fährt. Der Bus wird angehalten und eine Frau von Uniformierten aussortiert und erschossen, weil sie ein kleines Taschenradio besitzt. Die Botschaft: was in Ex-Jugoslawien passiert, kann sich überall ereignen. Nach diesen zwölf Minuten wartet man dünnhäutig wie ein rohes Ei auf den Hauptfilm. Andrzej Wajdas „Karwoche“ ist, wie der Titel ahnen läßt, ein Stationendrama. Es handelt von einer jungen polnischen Jüdin, die von guten Menschen in einem Warschauer Vororthaus versteckt wird. Der Film beginnt mit der Deportation von Juden, allerdings nicht in Form einer Groteske, wie Verhoevens „Mutters Courage“. Wajda bedient sich eines anderen Konstrukts. Die existentialistische Idee des Gefangenseins in einer klaustrophobischen Situation wird vom Regisseur im Stil von Ionesco und Sartre inszeniert und mit katholischer Ikonographie aufgeladen.

Im Warschauer Ghetto tobt der Aufstand. Irena Lilien (der Name!) gelingt mit Hilfe des Gottes Zufall die Flucht; ihr alter Freund Jan nimmt sie mit zu seiner schwangeren Frau, einer gläubigen Katholikin. Die blonde Frau funktioniert eher als Verkörperung einer Idee denn als Charakter: Sie ist nicht nur barmherzige Mariengestalt und Samariterin, sondern trägt auch die Hoffnung in sich. Ein Kind wird euch den Weg weisen... Fast noch Kinder sind es dann auch, die sich Jans Bruder Julek anschließen, um den aufständischen Juden beizustehen. Julek wiederum begehrt seines Bruders Weib, und er wird sterben müssen.

Wajdas Verkettung der Konflikte scheint hier unauflöslich eng. Die Anwesenheit von Irena im ehrenwerten Haus bedeutet, da die Aufnahme von Juden bestraft wird, tödliche Gefahr für die Hausbewohner. Sie scheiden sich denn auch in zwei feindliche Lager. Doch Irenas Auftauchen ist nur Anlaß hierfür, nicht Ursache. Die Angst hat das Vorortidyll schon zerstört, lange bevor die Jüdin ankam, und Regisseur Wajda behandelt sie denn auch, wie die Existentialisten, als eine Grundkonstante: Die Portiersfrau tuschelt, man beobachtet sich mit Mißtrauen, während man Buchseiten umblättert oder auf der Wiese faulenzt — es fehlen nur noch die Fliegen. Irena macht sich keine Illussionen: „Je mehr Tod du siehst, desto mehr willst du leben“, sagt sie — das gilt für alle Hausbewohner.

„Karwoche“ stellt nicht Theorien von Faschismus und Nationalismus zur Debatte, sondern thematisiert ein Tabu: den Antisemitismus der Polen, durchexerziert am tragischen Konflikt des Einzelnen. „Hier im Haus sind kleine Kinder“, zetert die Portiersfrau einmal, als sie sich über Irenas Anwesenheit beschwert, und meint doch nur ihre eigene Angst.

Ein ungeheuerliches Leidenspathos, das jedoch selten direkt in Bildern umgesetzt wird, hängt über Wajdas neuem Werk. Das brennende Warschauer Ghetto ist nur einmal zu sehen, als sich Irina vor einer Hausdruchsuchung auf das Dach flüchtet und den Horizont vom Feuer leuchten sieht. Immer ist der Garten vor dem Haus grün, ein Mieter liest Gedichte, ein anderer folgt der schönen Jüdin mit den Blicken des Voyeurs. Vor dem Ghetto dreht sich ein Karussell, die deutschen Besatzer hat Andrzej Wajda genau wie die motorisierten Todesengel in Cocteaus „Orphée“ ausgestattet. Irena nimmt die Kreuzigung vorweg, als sie in die Sonne tritt und die Arme ausbreitet. Der Lärm des Krieges rückt immer näher. All diese Manierismen, Erlösungssuchenden und Heilserwartungen verfolgen natürlich den heiligen Zweck, das ungeheuerliche Leid vor der Obszönität der Kamera zu bewahren, doch es teilt sich dem Betrachter trotz der Distanzierung ungeteilt mit: Ein paar Gerechte machen die Untaten der anderen nicht gut, das Unrecht hat keinen verborgenen Sinn. Mancher verließ das Kino kurz vor Schluß, um nicht sehen zu müssen, wer der Judas ist.

„Wielki Tydzień“ (Karwoche). Polen 1995, 90 Min, Regie: Andrzej Wajda. Mit Beata Fundalej, Wojciech Malajkat, Magdalena Warzecha

Heute um 9.30 Uhr im Royal Palast, um 18.30 Uhr in der Urania, um 22.30 Uhr im International