Schründe und Risse

■ Thomas Kling liest im Literaturhaus seine Gedichte

Kling liest, d.h., sagt man mir, „eine Dichtung wird weggeflext und dadurch Dampf abgelassen“. Schöne Metapher, denke ich, und stoße auf einen Vers aus dem 1994 erschienenen Band wände machn, in dem das Gedächtnis tatsächlich als „di feuerflex“ bezeichnet wird.

1989, im Jahr des Mauerfalls, erschien Klings geschmacksverstärker, ein Band, der wie sein Vorläufer erprobung herzstärkender mittel für Funkenflug in den Feuilletons sorgte. Aus beiden Gedichtsammlungen spricht ein Jahrzehnt, in dem die Springflut des Punk verschwappt und es etwas, das zählt, nicht gibt, eher etwas, das fehlt, etwas, das quält, und an dessen Ausgang der Zollfall für japanische Camcorder und CDs für die meisten weit wichtiger war als jeder Mauerfall. Noch Jahre später ist für Kling dagegen „ohne landeerlaubnis di geschichte“.

Thomas Klings Lyrik kann au- thentisch nicht im politischen Parka sein, und geht es doch um etwas, das zählt: Poesie, die allein noch als Paradox gedacht werden kann, nicht mehr in, aber unbedingt mit ihren Parametern, die allerdings so auch gedacht werden muß.

Im Band brennstabm von 1991 heißt es zu Georg Trakl: „Gifte. di fielen. TRAKL (27).“ Auf dem Blatt daneben die Abbildung eines Matrosencorps im Gras an einer Küste. Die Worte nur rudimentär noch als Gedichtkörper erkennbar, von Satzzeichen gezeichnet, wie aufgebogen und durchstöbert. Es wirkt, als sei vielmehr Buchseitenweiß in Thomas Klings Gedichtbänden als in anderen, die Text-Foto-Serie in brennstabm aber, die sich später zur Foto-Foto-Serie verjüngt, macht sichtbar, wie sehr hier Zeichensetzung auch außerschriftsprachlich einbedacht wird, um ein sinnlicheres Medium zu formen.

wände machn nennt Thomas Kling seinen bisher letzten Gedichtband: DDR-Sound, könnte man nochmals meinen. Doch statt dem E der Einigkeit ragt im Titel ein ätzender A-Umlaut und steht auch für Abschottung, für ein Bollwerk aus Sprachmaterie gegen das vereinte Deutschland. Er stammt aus dem Bergsteigerargot: gefährliche Wände (und mit jeder von ihnen auch sich) überwinden.

„Landschaften für mich“, durch die Karl Krolow in den 70ern schlendern ließ, werden durch Kling zu Extremzonen für sich. Die extremen Landschaften, in die er den Leser führt, sind die Gedichte selbst. Schründe und Risse, vom Interpunktionshammer herrührend, lassen dabei aus Lyriklesern Extremleser werden, Leser, die sich in ihr „touristnfleisch“ schneiden: mit der „feuerflex“ oder, wie Thomas Kling schreibt, „als ob sich augneinschreibungn mitteiltn“.

Mirko Bonné

Heute, 20 Uhr, Literaturhaus