Die Totmacher

Sister Act: Tim Robbins hat in „Dead Man Walking“ verfilmt, was Schwester Helen Prejean in der Arbeit mit Todeskandidaten erfahren hat  ■ Von Mariam Niroumand

Dieser Tage wird man permanent auf den Zusammenhang zwischen Kino und Religiösität gestoßen — sei es durch die barocke katholische Ikonographie bei Andrzej Wajda, sei es durch einen Zug zum Höheren bei diversen Alt-und Jungfilmemachern. Was da in der Regel stört, ist, daß der Weg zum Höheren durch die Misanthropie führt; daß das Jenseits nur glänzen kann, wenn hier alles recht sehr verworfen ist.

Der Effekt verflüchtigt sich sofort, wenn diese Religiösität wieder einen Kontext und eine Praxis bekommt, nicht alles pantheistisch mit Bedeutung aufgeladen wird, sondern die Welt in Ruhe in ihre verschiedenen Funktionssysteme zerfallen kann — und die Kirche eben in Konkurrenz mit anderen Meinungsbildern wieder sehen muß, wo sie bleibt.

Sister Helen Prejean, eine Nonne aus dem St. Josephs-Orden in New Orleans, kam aus einer dieser Südstaatenfamilien, in denen man nachts die Eltern nebenan beten hört. In einem Gespräch mit Tim Robbins, das dieser für das Magazin Interview mit ihr führte, erzählte sie, daß ihre Eltern dafür beteten, ein Mitglied der Familie möge sein Leben der Kirche widmen. „Ich wollte eine Heilige werden, ich wollte die Beste sein.“ Mit ihrer Initiation in das Klosterleben, eine glückliche, blumenbekränzte, weiße Erfahrung, beginnt „Dead Man Walking“.

Prejeans Kampagne gegen die Todestrafe weist sie als ein Produkt des II. Vatikanischen Konzils aus, bei dem es um die Modernisierung der katholischen Kirche ging. In seiner Folge legten Prejean und ihre Schwestern die Nonnentracht ab: „Davor betrachteten uns die Leute immer mit dieser Ehrfurcht. Wir schwebten vorbei in langen schwarzen Röcken. Als wir sie ablegten, wurden wir menschlicher; zugleich waren die neuen Freiheiten natürlich auch beängstigend.“

Die Vertreibung der Kirche aus dem öffentlichen, vor allem dem Raum der Exekutive, die unsereins zu begrüßen gewohnt ist, beklagt Schwester Prejean natürlich: „In der Religion geht es darum, jedes Mitglied der menschlichen Gemeinschaft zu lieben. Sie hat oft keine Stimme dort, wo die politischen Entscheidungen getroffen werden. In der Vergangenheit zeigten Filme über Nonnen uns entweder als Verrückte, als naive Kinder, oder als ulkige Nudeln, wie in „Sister Act“. Niemand hat bisher dargestellt, was in jemandem vorgeht, der mit seiner Religiösität in der sozialen Späre etwas in Bewegung setzen will. Es gibt eine gute Stelle in „Dead Man Walking“, als der Vater des ermordeten Jungen zu der Nonne sagt: „Ich habe eben nicht ihren Glauben.“ Und sie sagt: „Es ist kein Glaube, es ist Arbeit.“

Von Arbeit ist in der Tat in „Dead Man Walking“ viel die Rede. Wieviel Arbeit es ist, Mörder in einem Todestrakt zu halten. Wieviel Arbeit es ist, jemandem, der gänzlich rassistisch, brutal, humorlos und ungebildet ist, ein Gesicht der Liebe zu zeigen. Was es kostet, Rachegefühle nicht Gesetz und Aktion werden zu lassen. Und wieviel Arbeit es schließlich ist, jemanden auf staatliche Anordnung in einem exakt festgelegten Ritual zu Tode zu bringen.

Auf den Todeskandidaten Matthew Poncelet wurde Sister Prejean zunächst einmal ganz routinemäßig aufmerksam gemacht. Ihr Priester verteilte Briefaddressen in einer Morgenbesprechung: „Helen, schreibst du diesem Poncelet?“ Sie tuts, immer noch eher routinemäßig, und fährt schließlich auch zu ihm. Irgendwie, man weiß lange nicht wie, hat er gemeinsam mit einem Freund nachts im Wald zwei küssende Teenager aus ihrem Wagen gezerrt, das Mädchen vergewaltigt und beide erschlagen.

Leibesvisitation, Gitter über Gitter, Rednecks als Bewachung in der kurzen Besuchszeit — aber dies hier ist kein Knastfilm. Der Hochsicherheitstrakt wirkt vor allem steril und einsam. „Was bringen Sie einem Todeskandidaten? Was“, fragte Robbins die Nonne, „ist ihre Botschaft an so jemanden?“ Eher nüchtern versetzte sie darauf: „Die Hauptbotschaft ist ganz einfach: wenn jemand sich in ein Auto setzt, um zu dir zu kommen, heißt das: du zählst, du bedeutest etwas. Du hast als Person Würde und Wert, egal, ob du schuldig oder unschuldig bist.“

Sean Penn als Matthew Poncelet ist vor allem erstmal ein arroganter, maulfauler Scheißkerl. Er ist schwer zu verstehen, seine Augen sind kalt, er trägt einen Arschlochbart, seine Haare pomadig, seine Hände rot angelaufen und brutal. Er will eine Revision, aber in dem Verfahren vorm Appelationsgericht bekommt sein Anwalt nicht den Hauch einer Chance. Case dismissed, peng! Jetzt noch den Gouverneur um Gnade anflehen. Case dismissed, keine Gnade, schon gar nicht im Wahlkampf.

Inzwischen hat die Schwester längst Feuer gefangen — was soll man auch sonst tun, wenn einem jemand sagt „Sie sind meine einzige Chance“, die einzige wahrscheinlich, die dieser white trash mit seiner verstummten Mutter und den hilfslos Witzchen reißenden Brüdern je hatte. Susan Sarandon, die ihrem Lebensgefährten Tim Robbins übrigens Helen Prejeans Buch für eine Verfilmung ans Herz legte, spielt blaß, ungeschminkt, erschrocken und unendlich sympathisch. Als die Verwandten der Opfer sie ansprechen, ob sie nicht auch ein Recht auf ihre Betreuung hätten, muß sie vor Scham ein paar Filmminuten lang schlucken. Sie besucht die Eltern: die des Mädchens laden sie zu sich ein, als sie denken, sie habe sich von Poncelet losgesagt, die des Jungen lassen sich scheiden, nur der Vater spricht mit ihr. Damit man sich keineswegs von ihnen lossagen kann, sieht man immer wieder die Bilder jener Nacht: die Liebe im Auto, die feixenden Gesichter der Ungeliebten hinter der Wagenscheibe, das Flehen um Verschonung, Schläge, Schläge, schläge, immer dies irre Lachen dazu, und sie wollte doch morgen weg zur Uni nach Florida... Die Eltern klammern sich an den Gedanken der Rache wie Ertrinkende an ein sinkendes Schiff, schon halb ahnend, daß ihr Vollzug ihnen nicht helfen wird.

„Ich hatte natürlich Angst,“ erzählte Prejean, „daß bei einer Verfilmung versucht würde, zwischen mir und Poncelet so eine romantische Situation aufkommen zu lassen, oder mir eine Zyankalikapsel in den BH zu stecken oder sowas.“ Unnötig zu sagen, daß Robbins von so etwas weit entfernt ist. In den letzten Stunden singt, erzählt und liest sie für ihn, nachdem seine Familie hilflos Abschied genommen hat (diese letzte Begegnung im Wartezimmer, bei der eben Leute, die vorher auch nie groß Worte gewechselt haben, jetzt nicht wie Frank-Capra-Helden in Zungen der Wahrheit und Güte zu reden in der Lage sind, war für mich die entsetzlichste des ganzen Films).

Man hat das Gefühl, nochmal und immer wieder durch ein Stück Zivilisationsprozeß zu müssen: Verzicht auf das Blutopfer, Verzicht auf die Rache, und die große Schönheit von Helen Prejeans Sterbebegleitung: „Ich möchte“, flüstert sie, als sie ihn holen, „daß das letzte, was du von dieser Erde siehst, ein Gesicht der Liebe ist.“

„Dead Man Walking“. USA 1995, 100 Min. Regie: Tim Robbins. Mit: Susan Sarandon, Sean Penn, Robert Prosky

Heute um 22.30 Uhr im Zoo Palast. Wh. am 23.2.: 15 Uhr im Royal Palast, 21 Uhr in der Urania