: Klassenclown als Opernheld
Harvey Milk, „Bürgermeister der Castro Street“, war der erste offen schwul auftretende Stadtrat von San Francisco. Jetzt wird sein Leben veropert – unter John Dew in Dortmund ■ Von Karl-Heinz Wilhelmi
Auf Magnetband hat er sein Credo festgehalten: „Ich glaube, man muß einen Unterschied machen zwischen denen, die die Bewegung benutzen, und denen, die Teil der Bewegung sind. Ich glaube, ich war immer Teil der Bewegung.“
Sätze von Harvey Milk, registriert auf einem von drei Nachlaß- Tonbändern – der Versuch, ein politisches Testament zu formulieren. Das Zitat drückt das Lebensgefühl von Harvey Milk in seinen letzten Lebensjahren aus. Er hatte ein Ziel, und daß dieses Ziel ein Risiko in sich barg, wußte er nur zu genau. Harvey Milk, im Herbst 1977 als erster offen schwul auftretender Kandidat der Bürgerbewegung in den Stadtrat von San Francisco gewählt, wurde, zusammen mit dem Bürgermeister George Moscone, am 27. November 1978 von einem fanatischen rechten Politiker, dem Stadtrat Dan White, erschossen.
18 Jahre nach seinem Tod ist Harvey wieder da – als Held einer Oper, die am kommenden Samstag in Dortmund Europapremiere hat. Das Werk hat drei Aufzüge, die Musik kommt von Stewart Wallace, das Libretto hat Michael Korie geschrieben. Daß als Spielort das Ruhrgebiet auserkoren wurde, hat vor allem mit einem Mann zu tun: John Dew, neuer Generalintendant in Dortmund, der selbst erfreulich unverkrampft mit seiner Homosexualität umgeht (und insofern auch heute noch eine seltene Ausnahme unter den „Besserverdienenden“ darstellt), hatte das Helden-Thema vor ein paar Jahren bereits beim Opernhaus in Houston, Texas, ins Gespräch gebracht. Mit Erfolg. Im als konservativ gescholtenen Bundesstaat war am 21.1.95 die umjubelte Uraufführung.
Auch in Dortmund hoffen die Veranstalter auf einen Publikumserfolg. Die schwergewichtige Thematik, dankenswerterweise mal nicht als Musical konzipiert, kommt trotzdem amerikanisch leicht daher – zumindest lassen die Aufnahmen der Houstoner Aufführungen das ahnen: Das Publikum hatte hörbar was zu lachen. Musikalisch lassen Gershwin und Bernstein grüßen, modern und erfahren aufbereitet: „Harvey Milk“ ist – nach „Where's Dick?“, „Kaballah“ und „Hopper's Wife“ – bereits das vierte Opernprojekt des Teams Wallace und Korie.
Die Handlung beleuchtet – ausgehend vom Kernthema Attentat, das Anfang und Ende des Bühnengeschehens bestimmt – wesentliche Stationen und prägende Ereignisse im Leben des Titelhelden. Dreimal hatte Harvey Milk für die Stadtratswahlen in San Francisco kandidiert. Im Sommer 1973 (im Alter von 43 Jahren), dann nochmal im Jahr 1975 und schließlich im November 1977, als er den Sprung mit äußerst hohem Stimmenanteil endlich schaffte. Seine Wahl war zu diesem Zeitpunkt nur noch die Konsequenz einer Entwicklung, die nach seiner ersten Kandidatur im Sommer 1973 begonnen hatte. Die Zeit war reif für einen schwulen Volksvertreter im Stadtparlament, und Milks Einstieg in die Politik war von Anfang an verbunden mit seinem Engagement in der Schwulenbewegung. Schon vor seiner Wahl war Milk der „inoffizielle Bürgermeister der Castro Street“.
Das Viertel um die Castro Street hatte sich in der Zeit von 1973 bis 1975 zur Schwulenhochburg von San Francisco entwickelt. Harvey Milk lernte schnell, die Medien geschickt für sich zu nutzen, um die Öffentlichkeit auf seine Seite zu bringen. Aber er scheute auch nicht die Auseinandersetzungen mit den liberalen Schwulen und den radikalen „Kampfwütigen“ unter den lange vor ihm politisch aktiven Schwulen von San Francisco. Auch die, die ihn nicht ohne Vorbehalte unterstützten, mußten sein Eintreten für die Rechte der Schwulen respektieren.
Milk war auch tatsächlich Opernfan, und das schon als Kind. Er dirigierte das unsichtbare Orchester der Metropolitan Opera – vor dem Radio. Als Jugendlicher hatte er dann bei seinen ersten Opernbesuchen mit seiner Mutter bemerkt, daß er anders war als die meisten seiner Altersgenossen. Einen Rebell machte das zunächst nicht aus ihm.
Während seiner Schulzeit in New York spielte der Enkel jüdischer Einwanderer aus Litauen meist den Klassenclown, wodurch er sein Aussehen – Segelohren, Riesennase und übergroße Füße –, das ihm den Spitznamen „Glimpy Milch“ eingebracht hatte, geschickt kultivierte. 1955 absolvierte er brav vier Jahre Militärdienst bei der US-Marine, unterrichtete anschließend Mathematik und Geschichte – und wurde Banker.
Sein reifes Alter und sein bürgerliches Vorleben waren es, die Harvey Milk innerhalb der Schwulenbewegung zu einer Art frühem Realpolitiker machten. Milk hatte ein Gespür für das, was machbar und wünschenswert ist. Selbst für den Fall seines Todes rechnete er damit, daß „man diese Frustration und diese Wut nutzen wird, anstatt zu demonstrieren oder etwas in der Art; ich hoffe doch, daß man sich für die Macht entscheiden würde und daß fünf, zehn, hundert oder tausend sich erheben. Ich würde gern jeden schwulen Anwalt, jeden schwulen Architekten rauskommen sehen; sie sollen hergehen und es die Welt wissen lassen.“
Im großen Stil erfüllt hat sich Milks Hoffnung nicht. Doch für die 500.000 Schwule und Lesben im Revier hat Dews Operninszenierung neben dem puren Unterhaltungswert auch einen gewissen Signalcharakter. Jedenfalls wäre das im Sinne Milks, der Politik als Theater begriff und seine Rolle ausgezeichnet spielte. „Ich kenne jetzt die Regeln und werde sie konsequent anwenden“, soll er nach seiner ersten Kandidatur gesagt haben.
Premiere: Samstag, 19.30, Opernhaus Dortmund. Weitere Aufführungen am 28.2., 8./10. und 14.3., 3./6./11. und 28.4. Informationen zu Harvey Milk bei Randy Shilts „Im Namen der Hoffnung“ (Goldmann, 1993; Originalausgabe bei Martin's Press New York unter dem Titel „The Mayor of Castro Street. The Life and Times of Harvey Milk“) oder über die „Rosa Strippe“, Tel. 0234/19446
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