Vollgefressene Ratte, aber gutmütig

Frankfurt am Main behütet seine Ausländer wie unter einer Käseglocke – mit einer Mischung aus Apfelwein-Liberalismus und Dorfcharakter. Sogar der Polizeipräsident lobt sie, sooft er kann  ■ Von Heide Platen

Thorsten hat einen Kulturschock zu verarbeiten. Der junge Frankfurter ist vom Main an die Spree umgezogen. Nun will er wissen, weshalb er Berlin als „einfach aggressiver“ empfindet. Sich in der S-Bahn unsicher fühlt. Eine hauptstadtgestählte Kollegin versucht eine vorsichtige Erklärung: „Die Berliner sind aufgeregter, ihnen fehlt die Gelassenheit.“

Dem atmosphärischen Phänomen im Städtevergleich auf der Spur, braucht es neutrale Beobachter. Der Bremer Rechtsanwalt Andreas Berenthal ist beruflich häufig in Berlin und in Frankfurt zu Gast. Frankfurt erinnere ihn, so Berenthal, „an eine fette, vollgefressene Ratte, aber eine gutmütige“. Berlin dagegen empfindet er als „nur aggressiv“: „Da beharken sich alle gegenseitig. Jugoslawen gegen Türken, Deutsche gegen alle, Westler gehen nicht in den Osten und umgedreht.“ Wenn er dort zu Besuch sei, bekomme er immer wieder gesagt: „Da kannst du nicht hingehen, dort auch nicht.“ In Frankfurt dagegen brauche es keine ortskundige Führung: „Da kann ich überall alleine hin.“ Angst hat er in Berlin nicht, aber „da muß man vorsichtiger sein“.

Vierzig Prozent der 650.000 FrankfurterInnen sind Ausländer. Genug Sprengstoff für soziale Konflikte. Trotzdem sagt Irene Katheeb vom Amt für Multikulturelle Angelegenheiten: „Wir leben hier, gemessen an anderen Großstädten, behütet wie unter einer Käseglocke.“

Der Frankfurter neigt nicht zu gefühlsduseliger Ausländerfreundlichkeit, sondern ist aus tiefster Überzeugung egoistisch. Von Caritas keine Spur, Bürgersinn ist wohlverstandener Eigennutz. Vom Baron Rothschild wird kolportiert, er habe seinen Diener angewiesen, einen Schnorrer, der ihn mit seiner traurigen Lebensgeschichte rühren wollte, vor die Tür zu setzen: „Schmeiß en ennaus, er brischt mer's des Herz!“

Und die Freie Reichsstadt, die keinem Fürsten untertan war, pflegt noch heute ein ausgeprägtes Mißtrauen gegen jede Obrigkeit. Deshalb wohl haben gestandene Rechtsanwälte, die sich gegen das Sammellager des Bundesgrenzschutzes auf dem Rhein-Main- Flughafen als „Staat im Staate“ engagieren, nicht nur die Flüchtlinge im Blick, sondern auch den Obrigkeitsstaat, der da mitten in ihrer Stadt unkontrolliert schaltet und waltet. Das hat der BGS nur noch nicht begriffen: Frankfurter haben es eigentlich gern friedlich und gemütlich und mögen harte Töne und autoritäres Gehabe nicht. Runde Tische, Deeskalation, Diplomatie gehören dazu. Das mußten Politiker aller Parteien immer wieder lernen, wenn sie in der Hochhaus-Metropole am Main bestehen wollten.

Die Frankfurter Krämerseele ist der Obrigkeit gegenüber nicht dienstfertig, sie behauptet ihre Freiheit am liebsten durch soliden Wohlstand, Brüderlichkeit muß nicht sein, aber sehr wohl Egalität, bloß kein „Ferz“, nichts Überkandideltes, keine Überheblichkeit. Sie reduziert die Menschen, vor allem die da oben, gerne auf ihr irdisches Maß.

In den Wirtshäusern gilt es als unfein, sich einzeln zu setzen. Fremde quetschen sich mit Fremden zum Apfelwein-Test auf die schmalen Holzbänke. Und die Frankfurter können rechnen. Die größte Ausländergruppe in der Stadt sind derzeit die 26.000 Türken mit einem Gesamtjahreseinkommen von 450 Millionen Mark, das sie nicht mehr in die Heimat transferieren, sondern hier investieren – als Arbeiter, Kleinunternehmer, Kioskpächter, Laden- und Reisebüroinhaber, Ärzte, Architekten, Banker. Ihre Läden sind früh aus dem Bahnhofsviertel verschwunden und nun über die ganze Stadt verstreut. Aus den Gastarbeitern sind Investoren geworden.

Sabine Kriechhammer-Yagmur von der IAF (Verband binationaler Familien und Partnerschaften) sieht eine der Ursachen des relativ friedlichen Zusammenlebens: „In Frankfurt gibt es keine Ghettos.“ In den meisten Arztpraxen und etlichen Anwaltskanzleien ist der Wirtschaftsfaktor Mehrsprachigkeit längst entdeckt. In der Warteschleife des Telefons im Frankfurter Polizeipräsidium dudelt Musik. Kein schnödes „Bitte warten!“, sondern eine sanfte Männerstimme schnurrt „Prego, aspetare“.

Polizeipräsident Wolfhard Hoffmann geriet während der Jahrespressekonferenz fast ins Schwärmen. Ausländerfeindliche und rassistisch motivierte Straftaten sind in Frankfurt statistisch unterrepräsentiert. Er lobt das Amt für Multikulturelle Angelegenheiten, die „round tables“ und „workshops“. Auch auf die „ansässigen ausländischen Bewohner“ läßt er nichts kommen. Die seien gar „unterproportional“ kriminell. Die von amnesty international angeprangerten Übergriffe von Polizisten nennt er „Einzelfälle“.

Kaum irgendwo wird so schnell auf soziale Spannungen in der Bevölkerung reagiert. Ein Roma- Treff im Nordend hat, kaum daß sich Aggressionen stauen, schon seine Betreuung. In Frankfurt sind, stellten Besucher fest, auch die beinharten Autonomen „viel netter als in Berlin“. Nie kämen sie auf die Idee, ausgerechnet ein Wirtshaus zum Feindbild zu erklären. Die Probe aufs Exempel im Alltag ist die Fahrt im öffentlichen Verkehrsmittel. Zum Beispiel Samstagnacht in der S 8 in Richtung Frankfurt. Ein Senegalese trägt ein mit Schnüren zusammengehaltenes Bündel dunkler Stäbe. Kassava ist das, Maniok, Wolfsmilch, heimisch in Lateinamerika und dort, entgiftet, ein Grundnahrungsmittel wie auch Basis für Alkohol. Das erklärt er gerade den beiden jungen Marokkanern, die in Kelsterbach zugestiegen sind. Alle drei wechseln schnell zur deutschen Sprache über. Die beiden Nordafrikaner ziehen ihrerseits ein paar Handvoll winziger Zweige aus den Jackentaschen, knabbern die Blättchen ab, dann die grüne Rinde. Sie bieten das Kraut den Umsitzenden zum Probieren an.

Das sei keine Droge, versichern sie: „Aber es macht zufrieden, braucht du keine Mädchen mehr.“ Zwei Stationen weiter knabbern auch die Fahrgäste auf den Nachbarbänken neugierig an den Ästchen, während ein junger Türke einer deutschen Mitschülerin den Hof macht.

Hanna ist Gymnasiastin in Frankfurt. Sie sitzt morgens mit ihrer Clique in der U-Bahn und wundert sich: „Ausländer in meiner Klasse? Habe ich noch gar nicht bemerkt.“ Und dann zählt sie an den Fingern ab. Die Eltern von Ayse kommen aus der Türkei, „na ja, das muß aber grottenlange her sein“. „Wir sind alle“, überlegt sie, „vielleicht gerade weil unsere Eltern aus so vielen verschiedenen Ländern kommen, weder Aus- noch Inländer, sondern wir mußten neu erfinden, was wir sind.“