Die Hoffnung auf einen neuen Atomberg keimt

Nach Tschernobyl-Schock und leeren Kassen sollen Osteuropas AKW bald wieder boomen  ■ Von Reiner Metzger

Berlin (taz) – „Ich kann mich an keine neue Kraftwerks-Bestellung in Europa erinnern, und ich bin schon sechs Jahre hier“, grübelt David Kyd, Sprecher der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEO) in Wien: Die Kernenergie in Europa und Amerika stagniert laut Statistik. Zwar steigt die Zahl der Reaktoren weltweit weiter – Ende 1995 waren laut der französischen Atombehörde CEA 439 Atomblöcke in Betrieb –, doch die jetzt fertigebauten Meiler in Europa wurden alle vor der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 bestellt.

Einzig die boomenden Wirtschaftsnationen Ostasiens setzen weiter auf Kernkraft. So ging in Japan 1995 der 50. Block ans Netz. Damit liegen die Japaner ungefährdet vor der Bundesrepublik auf Platz drei der atomaren Weltrangliste hinter den USA und Frankreich. Selbst alle Länder des ehemaligen Sowjetreichs zusammengenommen produzierten 1995 weniger Atomstrom als das Land der aufgehenden Sonne.

Trotz der mageren zehn letzten Jahre sind die AKW-Bauer Osteuropas mit ihrer Moral noch nicht am Ende. Die Bestellung neuer Reaktoren im damaligen Ostblock ist zwar fast auf Null zurückgefallen (siehe Graphik), doch das mächtige Geflecht aus Atombefürwortern, Großanlagenbauern und nationalen Machtpolitikern wühlt in vielen Ländern nach wie vor in den zuständigen Ministerien. Tschernobyl hat allenfalls ein kurzes Innehalten bewirkt. Daß der explodierende Reaktor große Teile der Ukraine und vor allem Weißrußlands nach westlichen Grenzwerten in eine radioaktive Wüste verwandelt hat, rührt viele Menschen dort im täglichen Leben kaum. „Die Leute brauchen das Gemüse aus ihren Datschen. Also schert sich niemand um Tschernobyl“, so ein Journalist aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew.

Den Einbruch im AKW-Bau führen die Experten sowohl aus der Atomindustrie als auch alternative Forscher eher auf andere Faktoren zurück: „Niemand hatte in den letzten Jahren das Geld, Kernkraftanlagen zu bestellen“, sagt David Kyd von der IAEO. „Und wegen der Wirtschaftskrise in Osteuropa sank der Strombedarf sowieso.“

Trotzdem sollen die Atomzentralen weiterlaufen, solange ihre Reaktorbehälter einigermaßen dicht sind. In den ehemaligen Satellitenstaaten Rußlands verringern sie die Abhängigkeit von Öl und Gas des großen Nachbarn und bringen beim Export der Elektrizität sogar Devisen. So stammten im letzten Jahr 36,7 Prozent des Stroms in der Ukraine laut der französischen CEA aus Atomkraft. In anderen Ländern Osteuropas lag der Anteil zwar weit niedriger. Doch laufen auch in Tschechien, der Slowakei und Ungarn, in Bulgarien, Slowenien und Litauen die Reaktoren weiter. In Rumänien wird eifrig an den ersten AKW kanadischen Typs gebaut. Einzig Polen hat den Bau seiner Meiler sowjetischen Typs gestoppt.

Die Steckdosen der riesigen russischen Föderation selbst hingen zwar 1995 nur zu 11,5 Prozent vom Atom ab – einige Regionen ohne große Stauseen jedoch weit stärker, so zum Beispiel der Nordwesten von Smolensk über St. Petersburg bis zur Kola-Halbinsel im Norden. Dort wird laut NucNet, der Nachrichtenagentur der europäischen Atomindustrie, über die Hälfte des Stroms in AKW erzeugt. So hat die russische Regierung und das mächtige Atomministerium über die derzeit laufenden 29 Blöcke hinaus schon 25 Standorte für neue Reaktoren nach der Jahrtausendwende ausgewählt.

Dazu gäbe es Alternativen. Wer einmal durch die alten Kombinate spaziert ist, sieht sofort die ungeheuren Möglichkeiten, Energie zu sparen. „Doch das erfordert Investitionen in Unternehmen, von denen man nicht weiß, ob sie in einem Jahr noch existieren“, so Felix Matthes, Osteuropa-Experte des Freiburger Öko-Instituts. „Welcher Investor soll das Geld locker machen?“ Relativ schnell und preiswert könnten allerdings Gaskraftwerke und Fernwärmeanlagen modernisiert werden. Ihre Effizienz ist oft nur halb so hoch wie derzeit im Westen.

Die Frage ist jedoch laut Felix Matthes: „Wird in Rußland die Atomkraft als Bestandteil der Energiewirtschaft betrachtet oder weiterhin als Symbol einer eigenständigen Industrienation?“ Energiewirtschaftlich müßten die Russen laut Matthes genauso scharf rechnen wie woanders, das heißt die Kernkraft wäre zu teuer – es sei denn unter Verzicht auf elementare Sicherheitsstandards. Die Indizien sprächen aber für die zweite Möglichkeit, so Matthes: „Neben dem Aspekt der Atommacht spielt das nationale Selbstbewußtsein eine große Rolle. Kernreaktoren ist eines der wenigen Gebiete, wo die Russen eine führende Rolle spielen.“