Und ewig wirkt der Wiederholungszwang

■ Die tschechisch-deutsche Kontroverse um das Potsdamer Abkommen von 1945

„Die Ergebnisse des Potsdamer Abkommens sind eine historische Tatsache und die USA glauben, daß kein Land wünscht, sie anzuzweifeln.“ So antwortete die amerikanische Botschaft in Prag Ende letzter Woche auf eine tschechische Anfrage an die Signatarmächte des Potsdamer Abkommens. Die russische wie die englische Botschaft äußerten sich ähnlich, Frankreich, in Potsdam nicht dabei, zog es vor zu schweigen. Hintergrund der Intervention: Außenminister Kinkel hatte vorher zu verstehen gegeben, daß die deutsche Regierung Art. XIII des Abkommens, der von der „geregelten Umsiedlung der deutschen Bevölkerung“ und Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn handelte, für völkerrechtswidrig hält.

Kinkel hatte damit den Rechtsstandpunkt wiederholt, den alle westdeutschen Regierungen und die „herrschende Meinung“ der deutschen Völkerrechtslehrer seit jeher vertreten. Man könnte den Streit beruhigt den Rechtshistorikern überlassen, hinge er nicht unmittelbar mit den Schadenersatzforderungen der Sudetendeutschen Landsmannschaft gegen Tschechien als Rechtsnachfolgerin der Tschechoslowakei zusammen. Grundsätzlich, so heißt es, würden völkerrechtliche Verträge nur für die Vertragspartner gelten. Obwohl die Alliierten in Deutschland 1945 die Oberste Regierungsgewalt übernommen hatten, waren sie nicht frei gewesen, das Völkerrecht beliebig außer Kraft zu setzen. Selbst wenn man von der Rechtmäßigkeit der Vertreibungen ausgehe, habe schon 1945 der Völkerrechtssatz gegolten, daß bei Zwangsaussiedlungen, die mit entschädigungslosen Enteignungen verbunden seien, vom „Vertreiberstaat“ Entschädigung zu leisten sei. Die Bundesregierung müßte diese Ansprüche als Völkerrechtssubjekt gegenüber Tschechien geltend machen. Verzichte sie grundsätzlich darauf, sei sie gegenüber den Sudetendeutschen schadenersatzpflichtig.

Tatsächlich spricht weder das Potsdamer Abkommen noch das Wortprotokoll der Verhandlungen die Frage der Enteignungen sudetendeutschen Vermögens an, erst recht schweigen die Texte über mögliche Entschädigungen. Sofern die tschechische Regierung das Gegenteil behauptet, irrt sie. Aber wer die Protokolle liest, wird feststellen, daß die Westallierten hinsichtlich des Bevölkerungstransfers nur eine Sorge plagte: Werden zu viele „Abgeschobene“ ihr Besatzungsgebiet überschwemmen? Die Alliierten widersprachen nicht den beiden ersten Konfiskationsdekreten des tschechoslowakischen Präsidenten Benes, die vor dem Potsdamer Vertrag verkündet wurden und sie taten es auch nicht bei dem abschließenden Dekret vom 25.10.1945, das nach dem Ende der Konferenz erlassen wurde. Daraus folgt, daß sie nichts gegen die Dekrete und nichts gegen die entschädigungslose Enteignung hatten. Sie handelten so bzw. taten nichts in ihrer Eigenschaft als Souverän auf Zeit, als „Treuhänder“. Denn der deutsche Staat bestand nicht mehr und die Fiktion, er hätte nach dem 8. Mai 1945 nie zu existieren aufgehört, war noch nicht geboren.

Aber selbst wenn man diese Interpretation des Potsdamer Abkommens verwirft und Schadenersatzansprüche der Bundesrepublik bejaht, kommt man doch schlecht am Zwei-plus-Vier-Vertrag vorbei, der die äußeren Aspekte der deutschen Einheit regelt. Bei Licht besehen war dies ein Friedensvertrag, in dem die Hauptalliierten des Zweiten Weltkriegs die Staaten der Anti-Hitler-Koalition vertraten. Hätte die Bundesrepublik Schadenersatzforderungen gegen Polen oder die damalige Tschechoslowakei gehabt, hier wäre der Ort gewesen, sie geltend zu machen – und sich den Gegenforderungen der Tschechen und Polen auszusetzen, die unter Umständen weit höher anzusetzen wären als die sudetendeutschen Verluste. Christian Semler