Buhlen mit alten Feindbildern

Bundesaußenminister Klaus Kinkel äußert sich zum Potsdamer Abkommen und löst in Tschechien dadurch eine Debatte über deutschen Revanchismus aus  ■ Von Sabine Herre

Um Wahlen zu gewinnen, scheint den tschechischen Sozialdemokraten jedes Thema recht. Warnungen der Sozialistischen Internationale hin, Gespräche mit den deutschen Genossen her, die ČSSD setzt auf die nationale Karte und hat im Streit um die deutsch- tschechischen Beziehungen sogleich ein ganzes Bündel von Trümpfen gegen die konservative Prager Regierung in der Hand.

Jüngstes Beispiel sind die Äußerungen von Bundesaußenminister Klaus Kinkel zu der begrenzten Rechtswirksamkeit des Potsdamer Abkommens. Als die Regierungsparteien vergangene Woche eine parlamentarische Debatte hierüber ablehnten, holte der Parteivorsitzende Miloš Zeman aus: Die tschechischen Christdemokraten finanzierten ihren Wahlkampf mit einem Kredit der Bayrischen Landesbank. „Die Verbindungen mit dem deutschen Kapital“ bedrohten die „nationalen Interessen der Tschechischen Republik“.

Zemans Spiel könnte aufgehen. Seitdem sich Kinkel in einem Interview unbedacht über die alliierten Beschlüsse des Sommers 1945 äußerte, stehen die deutsch-tschechischen Beziehungen erneut im Mittelpunkt der politischen Diskussion in Prag. Der Münchner Vertrag von 1938, die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg haben ihren Platz inzwischen selbst in ansonsten kaum von politischen Themen belasteten TV-Spielshows gefunden. Die „Stimme des Volkes“ läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Wir sollen uns für Verbrechen an den Deutschen entschuldigen? Ja, haben wir denn den Zweiten Weltkrieg angefangen?“

Auch die historischen Abhandlungen der Wochenendbeilagen der Zeitungen zeigen: Sechs Jahre nach der „samtenen Revolution“ gibt es in dem 40 Jahre lang gültigen Geschichtsbild der Tschechen kaum einen Riß. „Wir waren bis auf wenige Ausnahmen Opfer des Faschismus“, heißt es. Fragen nach der – keineswegs geringen – tschechischen Kollaboration, dem weitgehend fehlenden Widerstand sind tabu.

Zemans Rechnung könnte aber auch falsch sein. Denn die nationale Frage haben nicht nur die Sozialdemokraten, sondern auch die anderen Oppositionsparteien, egal ob rechts oder links, zu ihrem Thema gemacht. Und schließlich läßt sich die Regierung von Václav Klaus hier kaum in die Enge treiben. Mit stetem Blick auf die Wahlen im Frühjahr ist sie bei den Verhandlungen über die deutsch- tschechische Erklärung zur gemeinsamen Vergangenheit den Bonner Forderungen nach einer moralischen Verurteilung der Vertreibung nie sehr entgegengekommen.

Dennoch gab und gibt es in der Tschechischen Republik natürlich Zweifel an Berechtigung und Richtigkeit der Vertreibung. Viele sind bereit, die brutalen Verbrechen, die die Tschechen in den Tagen zwischen Krieg und Frieden an ihren deutschen Mitbürgern begingen, moralisch zu verurteilen. Dabei wird jedoch stets säuberlich getrennt zwischen dem sogenannten „wilden“ und dem „geordneten Abschub“. Letzterer sei schließlich von den Siegermächten im Potsdamer Abkommen beschlossen worden – und daher legitim. Das Potsdamer Abkommen mußte stets herhalten, wenn es darum ging, die Verantwortung, die die tschechischen Behörden für die Vertreibung trugen, an übergeordnete Stellen abzuschieben.

Und so gelang es Klaus Kinkel eine allseits herrschende tschechische Lehre ins Wanken zu bringen. Daß der Außenminister einen seit jeher gültigen Standpunkt der Bundesrepublik bekräftigt hatte, interessierte dabei fast niemand. Deutschland wolle eine Revision der Nachkriegsordnung, es strebe erneut die Herrschaft über ganz Europa an, so ließen sich Politiker und Journalisten nahezu unisono aus. Tatsächlich gab es nur wenige, die die von Kinkel ausgelöste Debatte zum Anlaß nahmen, um das Zustandekommen des Potsdamer Abkommens genauer zu analysieren. Einer von ihnen war der ehemalige Berater des tschechischen Ministerpräsidenten Václav Klaus, Bohumil Doležal. In der Wochenzeitung Respekt vertrat er die Ansicht, daß die Beratungen im Cäcilienhof bereits vom beginnenden Kalten Krieg bestimmt worden wären. Viele Beschlüsse seien deswegen nicht mehr umgesetzt worden. Man könne nicht sagen, daß in Potsdam die Grundlagen der Nachkriegsordnung gelegt worden sind. Die Vertreibung könne nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wer sich heute ständig auf Potsdam berufe, berufe sich auch auf die Zeit der Teilung der Welt: „Dauerhafter Friede muß auf anderen Grundlagen errichtet werden“. Ganz anders sieht dies der Autor der ehemaligen Dissidentenzeitung Lidové noviny, Miroslav Gregorovic. Für ihn wurde in Potsdam vor allem der deutsche Faschismus verurteilt. Wenn die deutsche Regierung den Vertrag anzweifle, zweifle sie damit auch die Grundlage ihrer demokratischen Entwicklung an: „Zwar sah es nach 1989 so aus, als könnten die nationalistischen Ressentiments beider Seiten überwunden werden, als würden einige Passagen des Potsdamer Abkommens bereits der Vergangenheit angehören.

Die letzten Entwicklungen jedoch zeigen, daß die Vergangenheit in der Gegenwart weiterhin lebendig ist“. Diese beiden Positionen beschreiben die Spaltung der tschechischen Intellektuellen vor allem in der deutschen Frage. Da sind jene, die sich – wie etwa der frühere tschechische Ministerpräsident Petr Pithart – bereits zu Dissidentenzeiten mit der Vertreibung beschäftigten und sie verurteilten.

Dagegen stehen die stummen Mitläufer des kommunistischen Regimes, denen erst ihr Bekenntnis zur reinen Lehre der Marktwirtschaft Popularität brachte. Daß sie heute die Debatte über die Vertreibung prägen, ist für die ehemaligen Dissidenten eine weitere bittere Niederlage. Daran konnte auch Václav Havel nichts ändern. In Tschechien haben heute die Zemans das Sagen.