Hitlers liebe kleine Doris

„Emigration N.Y.“ (Forum) – Egon Humers Dokumentation seiner Gespräche mit zwölf jüdischen Emigranten aus Österreich in New York  ■ Von Anke Westphal

Der Holocaust diente zwei Spielfilmen dieser Berlinale („Mutters Courage“, „Karwoche“) als Material für Manierismen – und dann plötzlich so ein Dokumentarfilm. „Emigration N.Y.“ nimmt das Thema ernst. Der Film ist drei Stunden lang, kommt weitgehend ohne Archivmaterial aus und basiert auf Interviews, die der Regisseur Egon Humer mit zwölf österreichischen Juden im New Yorker Exil geführt hat – Wissenschaftler, Künstler, Psychoanalytiker, Manager. Als 1938 „der Anschluß Österreichs“ erfolgte, waren die Frauen und Männer fast noch Kinder, zwischen 9 und 17 Jahren alt.

Rosa Axelrod, Frank Gard, Gertrud M. Kurth und die anderen neun erzählen Wiener Alltag nach dem Einmarsch der Nazis. Zu Anfang dürfen sich die Kinder im Prater nicht mehr auf die Bänke setzen. Niemand kann ihnen den Grund plausibel erklären. Empört behauptet das katholische Kindermädchen, es seien ihre eigenen Kinder. Dann dürfen die Kleinen ihre alte Schule nicht mehr betreten. Davor warten Schlägertrupps von „arischen“ Kindern; die Gestapo holt mitten im Unterricht die Lehrer ab. Bald wird auch der Vater abgeholt, und daß die Kinder Vater und Mutter nicht vor den Nazis retten konnten, wird zum Trauma ihres Erwachsenenlebens. Das Furchtbarste ist vielleicht eine Rettungsphantasie der neunjährigen Doris Orgel: Das kleine Mädchen malte sich aus, „daß Hitler mich in einer Menschenmenge bemerkt und sich fragt, was das wohl für ein liebes kleines Mädchen ist. Und daß er seine Judenpolitik ändert, weil die kleine jüdische Doris doch so lieb ist.“ Auch Rosa Axelrod, Frank Gard und Gertrud M. Kurth fühlten sich als gute Österreicher. „Jüdischsein war ein Problem, das man mit Taufe zu lösen versuchte“, erinnert sich die Psychoanalytikerin Kurth. Als Hitler einmarschiert war, gab sie sich, wie die anderen, „alle Mühe, keinen Antisemitismus zu provozieren“, und mußte mit ansehen, wie sich ein Volk innerhalb einer Stunde die Hitlerabzeichen ans Revers heftete – „das heißt, die lagen schon bereit“. Man merkt bald, warum „Emigration N.Y.“ auf Archivfilme verzichtet. Es wäre nicht nur obszön, es ist auch nicht nötig, all diese Kindheitserinnerungen durch Dokumente in einem vermeintlich „objektiven“ Kontext zu verifizieren. Manchmal blendet der Regisseur ein Standfoto ein; einmal hören sich zwei der Emigranten die Rundfunkaufnahme von der Zerstörung des großen Wiener Tempels während der Pogrome im Jahre 1939 an. Da weht noch einmal der Tod, der natürlich wie der Faschismus „nicht persönlich gemeint ist“, so die Nachbarn zu den jüdischen Mitbürgern. „Emigration N.Y.“ respektiert, daß Kino nun einmal nicht authentisch ist und kollektive Geschichte die von einzelnen bleibt. Egon Humer wählt eine schlichte Form, die doch eine maximale Annäherung erlaubt.

„Emigration N.Y.“ hat mehr Wahrheit als die breitwandigen Konstrukte der Verhoevens und Wajdas. Die Anzahl der Befragten, zwölf, erinnert an Geschworene – um so erdrückender, wenn die Männer und Frauen, statt zu verurteilen, einfach berichten.

„Emigration N.Y. – Die Geschichte einer Vertreibung“, Österreich 1995, 187 Min, Regie: Egon Humer