: Die Maschinen laufen längst in Serbien
Das Volkswagenwerk von Sarajevo beschäftigte einst 3.600 Arbeiter. 1992 wurde es von den bosnischen Serben erobert, 2.000 noch produzierte VW-Golf tauchten alsbald auf dem Schwarzmarkt auf. Heute ist das Werk eine Industrieruine, demontiert und ausgeplündert. Die Region bräuchte die Investition, VW zögert, das Werk wiederzueröffnen ■ Aus Vogosca Georg Baltissen
An der Toreinfahrt steht ein freundlich lächelnder serbischer Wachmann. Die Schranke ist geöffnet. Keiner der Ankommenden oder Wegfahrenden wird kontrolliert. Auch die Wagenkolonne des deutschen Botschafters in Sarajevo, Hans Preisinger, wird freundlich durchgewunken.
Das Volkswagenwerk von Sarajevo, dieser weitläufige Industriekomplex mit dem Namen TAS (Tvornica Automobila Sarajevo), dem der Besuch des Botschafters gilt, liegt in einem Tal kurz vor Vogosca, einem Vorort nördlich von Sarajevo, etwa 15 Autominuten von der bosnischen Hauptstadt entfernt. Zwei riesige Löcher in der Außenwand einer Fertigungshalle lassen schon aus der Ferne ahnen, daß es mit dem Zustand des Werkes nicht zum Besten bestellt sein kann. Im Verwaltungsgebäude sind alle Computer gestohlen, die Büroschränke ausgeleert. Rechnungen und Bestellungen, Vermerke und Kalkulationen übersäen den Fußboden in wirklich allen Räumen. Lampen und Lichtleitungen sind herausgerissen. Im Büro des früheren deutschen Generaldirektors hängt lediglich noch ein Kalender an der Wand. Das einzige, was heil geblieben ist.
Das Datum zeigt den 21. April 1992 an. An diesem Tag mußte die Produktion eingestellt werden. Der serbische Angriff auf Vogosca hatte begonnen. Er dauerte nur wenige Tage, dann fiel Vogosca in die Hände der bosnischen Serben, das VW-Werk auch. Einige der 2.000 auf dem Werksgelände abgestellten, fabrikneuen Golfs wurden später auf dem Schwarzmarkt in Kiseljak bei Sarajevo für 6.000 Mark Stückpreis angeboten.
Die Häuser in der Umgebung des Werks sind ausgebrannt und verlassen. Eingestürzte Dachstühle und zu Rohbauskeletten zerbombte Gebäude auf den Hügeln machen die Gegend zu einer Geisterlandschaft. Im Tal an der Hauptstraße, etwa 500 Meter von der Abbiegung zum VW-Werk entfernt, haben sich Ifor-Soldaten eingebunkert.
In der Fertigungshalle stellt sich schnell heraus, daß außer der Delegation der deutschen Botschaft noch andere Besucher vor Ort sind. Lautes Hämmern dringt aus dem Hallentor. In der Halle selbst steht nur noch ein Gerippe von Anlagen. Vorgefertigte Kotflügel und Seitenteile liegen zwischen herausgerissenen Kabeln. Willkürlich zertrümmerte Maschinenteile versperren den Weg zum einstigen Fertigungsband. Die elektrischen Steuerungsgeräte für die Bänder sind demontiert. Der Betonboden ist verölt und verdreckt.
Botschafter Hans Preisinger geht dem Hämmern nach und ertappt einen Dieb in flagranti, der sich an einem elektrischen Gerät zu schaffen macht. Während der sich sofort aus dem Staub macht, hämmert ein weiterer auf dem höher gelegenen Stahlgerüst munter weiter. Es dauert eine Weile, bis er mitbekommt, was los ist, und ebenfalls das Weite sucht.
Ob nun die aufgescheuchten Diebe selbst oder der freundlich lächelnde Wachmann am Eingangstor die serbische Polizei alarmiert haben – jedenfalls stellen sich am Ausgang der Fertigungshalle plötzlich mehrere Polizisten der Botschaftsdelegation in den Weg. Ihr Wortführer behauptet, daß jeder, der die Halle betrete, einer Genehmigung der örtlichen Kommandantur bedürfe. Die Atmosphäre ist gespannt. Auch der Botschafter hat schließlich bewaffneten Schutz dabei. Und von irgendeinem Polizeipinkel läßt er sich nun schon gar nichts sagen. Seine Stimme klingt laut und energisch: „Ich vertrete die Bundesrepublik Deutschland. Ich brauche keine Genehmigung. Wenn Sie mit [dem bosnisch-serbischen, d.Red.] Premierminister Kasegić reden wollen, bitte. Meine Herren, wir gehen zur nächsten Halle.“
Die serbischen Polizisten schleichen sich wie begossene Pudel davon. Zwei Männer, die auf einem Handkarren Kupferteile abtransportieren, kommen uns entgegen. Die Polizisten machen keinerlei Anstalten, gegen irgendeinen dieser zahlreichen Marodeure einzuschreiten oder sie nach besagter Genehmigung zu fragen.
Noch immer wird alles, was irgendwie brauchbar erscheint, aus dem Werk geklaut. Auf einem Traktor neben dem gegenüberliegenden Fabrikteil sind Wellblechdächer verstaut. Das Hallendach ist zu mehr als 70 Prozent abgedeckt. Einige zerrissene Wellblechteile hängen in den Innenraum hinunter. Als Botschafter Preisinger auf die beiden Männer neben dem Traktor zugeht, lassen die den Traktor einfach stehen und verschwinden eiligst hinter den nächsten Gebäuden. Niemand wird sie daran hindern, ihr Diebesgut später in Sicherheit zu bringen.
Während in vielen Fertigungshallen vor allem marodierende Privatleute Unheil anrichteten, macht das Kabelwerk einen recht aufgeräumten Eindruck. Ohne Zweifel haben hier Menschen vom Fach die Maschinen demontiert und weggeschafft. Lediglich einige zertrümmerte Bildschirme, herumliegende Kabelrollen und umgestürzte Meßgeräte lassen ahnen, daß den Fachleuten doch noch die Leichenfledderer gefolgt sind.
In anderen Hallen fehlen Schleif- und Drehmaschinen, die nur mit schwerem Gerät abgebaut und auf Tiefladern weggeschafft werden konnten. Botschafter Preisinger ist sich sicher, daß diese Maschinen schon 1992 abgebaut und nach Kragejuvać in Serbien gebracht wurden.
Auf dem weitläufigen Gelände folgen wir dem Schienenstrang und finden noch etwa 70 Waggons der Bundesbahn. Nur einer ist aufgebrochen und ausgebrannt. Die Waggons wurden nur deshalb noch nicht fortgeschafft, weil die Strecke über ein Gebiet führt, das von den bosnischen Kroaten kontrolliert wird, vermutet der Botschafter. Ein kleiner Hoffnungsschimmer in dieser industriellen Apokalypse.
Vor einer Nachbarhalle stapeln sich Granathülsen für Artilleriegeschosse und Panzerrohre. Die 105- und 155-mm-Hülsen müssen ganz neu sein. Sie glänzen noch im nachmittäglichen Sonnenlicht. Ein Offizier der bosnischen Regierungsarmee bestätigt später, daß seine Einheiten mehrere Angriffe auf diese Stätte der serbischen Kriegsproduktion unternahmen – sie seien aber immer wieder zurückgeschlagen worden.
Das Automobilwerk ist ein Joint-Venture-Unternehmen des großen staatlichen Metallkonzerns Unis und der Volkswagen AG. Die Beteiligung von Volkswagen an dem Werk geht auf das Jahr 1972 zurück; der Kooperationsvertrag mit Unis datiert von 1979. Neben dem Golf wurden hier ein Kleintransporter sowie VW-Teile für die Fertigung in Deutschland gebaut. Die Firma beschäftigte bis 1992 3.600 Mitarbeiter. Pro Tag liefen rund 200 VW-Golf vom Band. Die Zuliefererindustrie der Umgebung sicherte weitere Arbeitsplätze. 38 Prozent der Beschäftigten waren bosnische Serben. Aus dem einst bedeutenden Industriekomplex ist eine gespenstige Ruine geworden. „Wir wußten Bescheid über das, was dort vor sich ging“, sagt Hasan Muratović, der bosnische Premierminister, gegenüber der taz. Doch habe niemand eingreifen können oder wollen. „Wir hoffen“, sagt Muratović weiter, „daß das Werk wieder aufgebaut werden kann, trotz all der Zerstörungen.“
Nach wie vor ist das Werk Eigentum des Unis-Konzerns und der Volkswagen AG. „Ich bin in ständigem Kontakt mit VW, und sie zeigen sich sehr interessiert“, sagt Botschafter Preisinger. Aber noch ist keine VW-Delegation vor Ort eingetroffen, um sich ein Bild davon zu machen, was den Konzern hier erwarten würde. Besonders eilig muß VW es auch gar nicht haben. Längst ist der Automobilkonzern für den Verlust des Werkes in vollem Umfang entschädigt – über die „Bundesgarantie für Kapitalanlagen im Ausland“. Diese Bundesversicherung tritt bei „politischen Risiken“ ein – ob Krieg oder Enteignung.
„Wir werden nach Vogosca gehen und eine Bestandsaufnahme machen, schon um den Totalverlust gegenüber der Bundesregierung als begründet darzustellen“, sagt VW-Sprecher Schlehein. „Aber es war bis jetzt nicht möglich, einen Besuchstermin zu organisieren.“ Im nächsten Monat soll die Delegation jetzt starten. „Wir müssen aber sehr genau prüfen, ob wir angesichts einer Beschäftigungsdauer von 28,8 Stunden in Deutschland wirklich im Ausland investieren sollen“, so Schlehein.
Allen Seiten ist klar, daß der Wiederaufbau des Werkes eine wichtige Unterstützung des Friedensprozesses in Bosnien darstellt, bringt er doch die Menschen in Brot und Arbeit. Auch der VW- Sprecher will sich den Forderungen bosnischer und deutscher Politiker nicht verschließen. „Wir sind im Gespräch mit der Bundesregierung“, so Schlehein. Nach einem ersten Konzept sollen den bosnischen Serben wieder rund 40 Prozent der Arbeitsplätze zugesichert werden, um sie für den Wiederaufbau der Fabrik zu gewinnen. Ein letzter Blick ins Verwaltungsgebäude verschafft aber sehr schnell die Gewißheit, daß dieses Konzept noch nicht bis zu den bosnischen Serben vorgedrungen sein kann.
Botschafter Preisinger hat nach seinem dritten Inspektionsbesuch im Volkswagenwerk von Sarajevo jede Illusion verloren. „Ich werde Volkswagen wohl kaum so bald davon überzeugen können, hier viel Geld zu investieren“, lautet sein bitteres Resümee.
Immerhin: Gestern traten 85 Polizeibeamte der bosnischen Föderation ihren Dienst in Vogosca an. Damit steht auch das Volkswagenwerk wieder unter Kontrolle der bosnischen Regierung.
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