Berlin droht der finanzielle Notstand: Im Landeshaushalt klafft eine Lücke von 5,3 Milliarden Mark. Noch vor kurzem wurde diese Dimension des Defizits verschwiegen, ein Ausweg ist nicht in Sicht. Den BerlinerInnen steht laut ihrer Finanzsen

Berlin droht der finanzielle Notstand: Im Landeshaushalt klafft eine Lücke von 5,3 Milliarden Mark. Noch vor kurzem wurde diese Dimension des Defizits verschwiegen, ein Ausweg ist nicht in Sicht. Den BerlinerInnen steht laut ihrer Finanzsenatorin ein „schwerer, entbehrungsreicher Weg“ bevor. Auch die geplante Länderfusion mit Brandenburg ist nun ernsthaft gefährdet

Berlin versinkt im Haushaltsloch

Manch einer im Berliner Senat würde sie wohl schon jetzt am liebsten wieder an die Bielefelder Universität zurückschicken, wo sie bis vor kurzem öffentliches Recht lehrte. Seit Mitte dieser Woche aber ist es zu spät. Annette Fugmann-Heesing, die neue Finanzsenatorin der Hauptstadt, hat ihre Ankündigung wahrgemacht und der Stadt die Illusionen geraubt: Berlin schlittert geradewegs auf den finanziellen Notstand zu. Die Deckungslücke, also der nicht durch Kredite oder sonstige Einnahmen ausgeglichene Betrag im Landeshaushalt, ist um ein Vielfaches höher als bislang angenommen. Statt 23,1 Milliarden Mark klafft bis 1999 nunmehr ein Loch von 32 Milliarden Mark im Etat.

Das Zahlenwerk hat selbst die vor sechs Wochen abgeschlossene Koalitionsvereinbarung von CDU und SPD ad absurdum geführt: Zum damaligen Zeitpunkt stand noch eine Deckungslücke von 4,4 Milliarden für 1996 auf dem Papier, jetzt sind es 5,3 Milliarden Mark. Damit aber noch nicht genug: Weitere 2,3 Milliarden Mark müssen Bezirke und Hauptverwaltungen noch einsparen – macht also in diesem Jahr ein Sparvolumen von 7,6 Milliarden Mark. Eine dramatische Lage, die der 41jährigen Finanzsenatorin die kühle Formulierung entlockte, den Bürgern der Stadt stünde ein „schwerer, entbehrungsreicher Weg“ bevor.

Schlechte Nachrichten vor der Wahl unerwünscht

Der Ton, den die SPD-Politikerin jetzt angeschlagen hat, ist neu für die politische Klasse der Stadt. Noch vor wenigen Monaten hatte Elmar Pieroth, ihr christdemokratischer Amtsvorgänger, eher Verschleierndes als erhellende Daten auf den Tisch gelegt. Die Haltung des sympathischen, aber in Haushaltsfragen unbedarften Pfälzers, der nun das Wirtschaftsressort leitet, kam den Regierungspartnern SPD und CDU entgegen. Vor den Wahlen im Herbst waren schlechte Nachrichten unerwünscht. Erst nach dem 22. Oktober wachte die SPD auf und bemängelte intern, die Haushaltsmisere nicht schon viel früher thematisiert zu haben. Daß ausgerechnet von einer Auswärtigen im Eiltempo nachgeholt wurde, was viele im Senat seit längerem ahnten, ist symptomatisch für das Klima in der Stadt. Innensenator Jörg Schönbohm (CDU), ebenfalls aus Westdeutschland, brachte es in ungewohnter Offenheit auf den Punkt: „Uns steht das Wasser bis zum Halse.“

Ein Ausweg aus der Krise ist nicht in Sicht. Die jüngsten Berechnungen der Finanzverwaltung fußen nicht zuletzt auf den Prognosen des Jahreswirtschaftsberichts der Bundesregierung. Demnach muß Berlin allein in diesem Jahr mit 900 Millionen Mark weniger Steuereinnahmen rechnen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung sieht Berlin mit einem sogenannten Nullwachstum bundesweit auf dem letzten Platz der Länderliste. Der nicht nur in Berlin beliebte Ausweg, durch Aufnahme neuer Kredite – in diesem Jahr allein rund sechs Milliarden Mark – den Haushalt zu stabilisieren, wäre finanzpolitisch fraglich und politisch fatal. Gefährdet wäre damit nämlich die Fusion mit Brandenburg, dem ehrgeizigsten Projekt der Großen Koalition. Schließlich hat sich Berlin verpflichtet, die Netto-Neuverschuldung bis zum Jahr 1999, dem möglichen Zeitpunkt der Länderehe, um jährlich 650 Millionen Mark herunterzufahren. Sollte das Land von seiner Verpflichtung abrücken, könnte die Stadt nach der Fusion weniger Mittel aus dem Landeshaushalt erhalten. Angesichts dieser Aussichten spricht die PDS frohlockend von einem „unkalkulierbaren Abenteuer“.

Fugmann-Heesing zumindesten scheint gewillt, den wahren Umfang der Finanzmisere noch vor dem Datum der Volksabstimmung am 5. Mai offenzulegen. Ein Nachtragshaushalt soll noch vor Ostern unter Dach und Fach sein. Zuvor will sie mit Gewerkschaften, Unternehmensverbänden und sozialen Initiativen sprechen und damit einlösen, was sie in ihrer Antrittsrede angekündigt hatte: die Kürzungen möglichst breit zu streuen.

Auch der Sozialetat ist vom Sparen betroffen

Gefahr droht ihr dabei von allen Seiten. Nicht nur aus dem Senat, von dessen Mitgliedern mancher, so Fugmann-Heesing, die „Dimension“ dessen, „was wir zu leisten haben“, noch gar nicht erkannt habe. Die Fallstricke für sie sind bereits überparteilich ausgelegt. Aus den 23 Bezirken droht hinhaltender Widerstand. Sie sollen 1,1 Milliarden Mark in diesem Jahr einsparen – das, so die Klage mehrerer Bezirksbürgermeister, sei nicht ohne tiefe Einschnitte in die Sozialetats leistbar.

Die Finanzmisere bringt nicht nur die Regierung in Bedrängnis, sondern fordert auch die Opposition heraus. Während die PDS- Verantwortlichen in den Ostberliner Bezirken einen Verweigerungskurs androhen, geraten die Bündnisgrünen in die Zwickmühle. Ihre Fraktion war es schließlich, die dem alten Senat wiederholt Verschwendung vorgehalten hatte und sich zum heimlichen Anwalt der Haushaltssanierer gemausert hatte. Folglich schlugen grüne Bezirkspolitiker Kürzungen von 412 Millionen Mark für 1996 vor. Würde die erkleckliche Summe tatsächlich eingespart, der Aufschrei der alternativen Klientel wäre sicher. Severin Weiland