Großpapa Erich darf jetzt nicht mehr reinreden

■ WM-Sturzflug in die Eigenverantwortung: Heike Drechsler braucht heute bei der Hallen-DM einen Siebenmetersprung, um wieder richtig ins Geschäft zu kommen

Bielefeld (taz) – Beim Training sitzt Erich Drechsler in diesen Tagen zumeist im Hintergrund und beobachtet interessiert das Treiben seiner Schwiegertochter Heike. Auch bei den Pressekonferenzen läßt der Trainer seine Präsenz kaum spüren, und so ist nicht mehr viel zu sehen von dem „engen Familienkokon“, den der Spiegel noch vor einem Jahr als Abschirmdienst der Sportlerin ausmachte. „In den Anfangsschwierigkeiten der Wendezeit“ ist die Sicherheit in der Familie ein komfortables Exil gewesen, gesteht die Weitsprung-Olympiasiegerin, heute jedoch „setze ich meinen Kopf durch“.

Heike Drechsler hat sich inzwischen in dem neuen System zurechtgefunden und „ein eigenes Leben entwickelt, in das ich mir nicht reinreden lasse“, mit 31 immerhin. Seit sechs Jahren läßt sie sich vom Noch-Schwiegervater auf Höchstleistungen trimmen, doch nach Atlanta scheint ein Ende der Verbindung nahe. „Wenn man so lange zusammen ist“, sagt die Jenenserin, „schleift sich eine Beziehung ab.“ Daß das in ihrer Ehe mit Drechslers Sohn Andreas ähnlich war und sie nun mit dem französischen Zehnkämpfer Alain Blondel liiert ist, erklärt die Entwicklung ebenfalls, obwohl Erich Drechsler betont, das Paar liege „ja nicht im Streit“.

Seinen Schützling ärgert wohl vor allem, wenn dem Opa ihres Sohnes das Fingerspitzengefühl abhanden kommt: Allzu gerne mag der sich mit den marktwirtschaftlichen Annehmlichkeiten wie Startgeldern arrangieren, läßt zuweilen jedoch, etwa in Fragen der Pressefreiheit, die Progressivität vermissen. Heike hingegen schwärmt, sie sei „viel lockerer“ geworden in den letzten Jahren, auch, weil sie erkannt habe, daß man „aufgeschlossen mehr Freunde gewinnt“.

Bereitwillig gibt sie daher auf den Meetings selbst den kleinsten Lokalblättern noch Interviews – freilich hat sie nur einen geschickteren Stil als der gelegentlich undiplomatische Trainer entwickelt. Doch auch sie ist bestrebt, bei den Plaudereien Unannehmlichkeiten auszusparen. „Ohne ein Geben“, ist ihr aufgegangen, bleibe auch das Nehmen aus. Das indes gilt es bei einer erklecklichen Million Mark im Jahr zu halten. Allein pro Meeting-Auftritt klassiert sie zwischen 15.000 und 25.000 Mark, „weil ich weiß, daß ich einen guten Stellenwert habe“.

Selbst der Göteborger WM- Aussetzer vom letzten Sommer, als sie den Sand nur bis 6,64 Meter zerwühlen konnte und bereits im Vorkampf scheiterte, hat ihrem Selbstbewußtsein nicht geschadet. In der Saisonvorbereitung hat sie vielmehr an der Reanimation ihrer alten Anlaufgeschwindigkeit gearbeitet. Nun gilt es, die in einen perfekten Absprung umzusetzen.

Heute, bei den deutschen Leichtathletik-Hallenmeisterschaften in Karlsruhe, will sie als erste Frau in diesem Jahr über die Siebenmetergrenze hüpfen. Eigentlich ist ihr das bereits vor Wochenfrist bei einem Meeting in Bielefeld gelungen, doch die zwei Sprünge wurden für ungültig erklärt. Das, „obwohl ich optimal vom Brett abgesprungen bin“, wie Drechsler befand. So wurden es nur 6,91 Meter. Die 7 aber, weiß Drechsler, müsse sie „schon anbieten“. Damit das Geschäft weiterläuft. Ihr eigener Hallenweltrekord liegt gar bei 7,37 m, geschafft allerdings auf einem Federboden, „auf dem du gleich zwanzig Zentimeter weiter springst“.

Für eine Weitsprungmedaille in Atlanta verzichtet sie selbst auf den geliebten Siebenkampf, weil der dem Weitsprung nur zwei Tage vorausgeht, sie aber vier für Regeneration veranschlägt. Nach Olympia, sagt Heike Drechsler, wolle sie etwas Neues probieren. Sie denkt an die 400-Meter-Strecke, „auch wenn es schwer ist, sich aus einer erfolgreichen Disziplin in die Ungewißheit zu verabschieden“. Die meidet Heike Drechsler eigentlich vorzugsweise: Nach Chemnitz wechselte sie, weil ihr dort die Barmer Ersatzkasse eine Anstellung als Gesundheitsberaterin bietet – auf Lebenszeit. Jörg Winterfeldt