Ein Mann für jede Jahreszeit

In der enthusiastischen Goethe-Biographie des Engländers Nicholas Boyle mögen sich alle halbwegs europäisch und global denkenden Zeitgenossen wiedererkennen – gehandelt wurde trotzdem bloß von Weimar aus  ■ Von Ekkehart Krippendorff

„Wahrscheinlich wissen wir über Goethe mehr als über irgendeinen anderen Menschen.“ Wie kann man widerstehen, da weiterzulesen, wenn man ein Buch – sagen wir: beim Durchblättern in einer Buchhandlung – aufschlägt, das mit diesem Satz beginnt? In der Tat: Man liest sich da rasch fest – und da es sich bei diesem Band I einer neuen Goethe-Biographie um ein Opus von fast 900 Seiten handelt, wird man es entweder zögerlich zurücklegen oder eben doch die 78 Mark zahlen, um zu lesen, wie's weitergeht. Und auch wenn es kein Krimi ist und man das Ergebnis irgendwie zu kennen glaubt – und das gilt für Goethe- Leser wie für solche, die mehr den großen Namen als ihn und seine schriftlichen Zeugnisse kennen, gleichermaßen –, die mit dem Auftakt geweckte Neugier kommt auf ihre Kosten.

Nicht nur wissen wir über Goethe mehr als über andere große Individuen, seine Biographie ist auch, wenngleich äußerlich nicht gerade aufregend (über Mitteldeutschland, Böhmen und Italien ist er kaum hinausgekommen), von einem inneren Reichtum und Ertrag an „Entelechie“, an Entwicklung, die kaum ihresgleichen hat. Und daran teilzunehmen, diese Biographie symbolisch zu lesen für Möglichkeiten, die in dieser oder jener Form in uns allen stecken, dazu lädt uns nicht nur Goethe selbst ein („Dichtung und Wahrheit“ ist und bleibt eines der schönsten Bücher deutscher Sprache), sondern eben auch sein neuester Biograph, der Engländer Nicholas Boyle.

Boyle schrieb diese „Fleißarbeit“ (und das ist sie in ihrer akribischen Detailgenauigkeit auch) zwar zunächst für sein englisches Publikum, aber die Übersetzung (sie gibt sich so mühelos und ist so gelungen, daß man sie nie als solche spürt) macht daraus mühelos eine deutsche und zugleich eine europäische Biographie, denn Goethe war nie im nationalen Sinne „Deutscher“, sondern er war Weimarer und Europäer. Er lebte jene anspruchsvolle Maxime, die heute zum inflationierten Schlagwort zu werden droht: Global denken, lokal handeln.

So steht im Zentrum dieses ersten Bandes die Entscheidung Goethes, das bequeme Leben in der freien Reichsstadt Frankfurt und die Perspektive eines Erfolgsschriftstellers aufzugeben zugunsten des kleinen, provinziellen Herzogtums Weimar, wo er gesellschaftlich-politisch als Fürstenerzieher und verantwortlicher Minister direkt und mit sichtbaren Folgen wirken konnte: „Regieren!!“ schrieb er in sein Tagebuch.

In den ersten zehn Weimarer Jahren hat er kaum etwas mehr publiziert, und die Freunde überall im Lande begannen schon, ihn, den Dichter des „Götz“ und des „Werther“, abzuschreiben oder doch wenigstens ihn zur Kurskorrektur aufzurufen. Noch 200 Jahre später hat der spanische Philosoph Ortega y Gasset in einem damals viel beachteten Essay es als eine Tragödie für die deutsche Geistesgeschichte und politische Kultur angesehen, daß Goethe, statt nach Berlin oder Hamburg, also in eines der Zentren der sich formierenden Nation, zu gehen, sich in ein idyllisches Kleinfürstentum zurückzog. Boyle begründet mit großer Überzeugungskraft – und eine der besonderen Qualitäten seiner Biographie liegt im sozialgeschichtlichen Kontext –, warum es gerade für einen gesellschaftlich so engagierten Mann in Deutschland kaum einen besseren Ort als gerade Weimar in dieser besonderen Konstellation der Verbindung von Kultur, Politik und Wirtschaft gab. Und obwohl er bisweilen schwankend wurde, hat er doch schließlich – auch nach der Rückkehr aus Italien (und mit der Verarbeitung des Italien-Erlebnisses schließt dieser erste Teil) – an Weimar mit innerer Überzeugung festgehalten und diesem Ort jene „Klassik“ beschert, von der wir bis heute zehren.

Im Unterschied zu manchen anderen Goethe-Biographien werden nun hier die dichterischen Werke, also das, wodurch uns Goethe vor allem überliefert und bildungsbürgerlich präsent ist, nicht zur Illustration der Vita nur herangezogen, sondern Boyle verfährt eher umgekehrt. Goethes Werk – die Lyrik, die Dramen, die Prosaschriften, aber auch die naturwissenschaftlichen Arbeiten, deren Anfang in die ersten Weimarer Jahre fällt – werden zu Spiegeln dieses Lebens und dieser besonderen Lebenserfahrung. Die Werkinterpretationen nehmen dergestalt einen vergleichsweise breiten Raum ein, und nicht wenige davon haben die Qualität kleiner eigenständiger Essays, ohne dabei den größeren biographischen Zusammenhang aus den Augen zu verlieren.

Von den vielen thematischen Fäden, die Boyle verfolgt, ist einer ganz besonders überzeugend: Goethes zunehmende Ablehnung des Christentums als Offenbarungsreligion, der bittere Spott, den er über den gekreuzigten „Schwärmer“ ausgießt, nicht zuletzt weil er das kirchlich verfaßte Christentum mitverantwortlich macht für die folgenreiche Unterdrückung der Sexualität. Goethe war auch und nicht zuletzt ein Aufklärer, einer der – wie der Prometheus seines berühmten Gedichtes – den so vielfach Bedrückten und Beladenen Erleichterung und ein größeres Maß an Freiheit bringen wollte.

Boyles Biographie ist eine Fundgrube – auch für die, die sich da schon auszukennen glauben. „Es ist immer eine Freude, über Goethe zu schreiben“, heißt es im Vorwort, und diesen Enthusiasmus merkt man dem Buch an – wie könnte auch jemand ohne das soviel Energie für ein solches Unternehmen aufbringen. Daß der engagierte Autor dabei über weite Strecken sich allerdings in die Welt der Einzelheiten und liebevoll rekonstruierten Chronologien auch verirrt und man sich bisweilen fragt, ob ihm da nicht unterderhand das von Goethe selbst immer wieder reflektierte Exemplarische, das Symbolische der eigenen Existenz und Biographie verlorengeht, daß es verschwindet unter der Fülle des Mitgeteilten, das sei doch wenigstens angemerkt: Die epische Breite des Unternehmens ist zugleich oft auch die einer bunten Oberfläche.

Boyles liebevolles und eindrucksvolles Werk hat aber noch eine politisch-aktuelle Dimension: Es ist auch eine „Hommage“ an die Bundesrepublik, der er konzediert, „für das Beste und Älteste in den politischen Traditionen der Nation“ und „dem Geist Goethes am nächsten“ zu stehen. Wer hört solches Lob nicht gern – aber ob das vereinte Deutschland, das gerade dabei ist, mittels Soldaten nach Bosnien Goethes Weimarer Lektion gegen Großmachtambitionen und für das Primat der Kultur in der Politik in den Wind zu schlagen (noch ehe wir diese Botschaft eigentlich vernommen haben, denn der politische ist auch der unbekannte Goethe), dieses 1991 ausgesprochene Lob noch immer verdient, das ist leider inzwischen sehr fragwürdig geworden. Aber ermutigend ist es trotzdem – oder wenigstens eine große Verpflichtung.

Nicholas Boyle: „Goethe – Der Dichter in seiner Zeit. Band I, 1749–1790“. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Fliessbach, C.H. Beck-Verlag, München 1995, 885 Seiten, 78 DM