Rußlands Reformer gehen in die Knie

Die „alten Kameraden“ scharen sich wieder um Jelzin. Die Chancen des Kremlchefs, die Präsidentschaftswahlen im Juni zu gewinnen, sind dadurch gestiegen  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Mit seiner „Rede an die Nation“ hat der russische Präsident Boris Jelzin gestern in den Präsidentschaftswahlkampf eingegriffen. In den Mittelpunkt seiner Ansprache stellte Jelzin die Wirtschaftsreformen in seinem Land. Zwar müsse die Marktwirtschaft weiter entwickelt werden, jedoch zu einem geringeren sozialen Preis. Die Menschen in Rußland könnten den Gürtel nicht noch enger schnallen, sagte der Präsident vor beiden Kammern des russischen Parlaments, denn sonst werde die Unzufriedenheit stärker werden als alle Hoffnung.

Um diese Unzufriedenheit aufzufangen, forderte Rußlands Innenminister, General Anatolij Kulikow, vor kurzem die Renationalisierung maßgeblicher Großunternehmen, unter ihnen Betriebe des Energiesektors, vor allem aber der Banken. Die Geschäftswelt schrie auf, das Image Präsident Jelzins in Reformkreisen sank endgültig gegen null. Jelzin schien äußerst schlecht beraten. Doch die Effekte waren gewollt.

Den Wählern des oppositionellen Lagers sollte einerseits gezeigt werden, „auch wir denken an Renationalisierung und Umverteilung“. Hauptadressat war andererseits die Geschäftswelt, genauer, jener träge und passive Teil, dem Wahlen gleichgültig schienen. Die Botschaft kam an: Entweder unterstützt ihr uns – nicht zuletzt finanziell – oder wir rücken euch massiv auf den Pelz.

Die Welt des Geldes reagierte umgehend. Geschäftsleute, die noch anonym agieren, gründeten einen Unterstützerkreis. Ausgerechnet Anatolij Tschubais, ehemaliger Privatisierungsminister und Vizepremier, den Präsident Jelzin vor wenigen Wochen mit Schimpf und Schande aus dem Amt jagte, soll die Federführung der Beistandskampagne übernehmen. Tschubais war von Jelzin für alle Übel und Mängel des Wirtschaftsverlaufs der letzten Jahre verantwortlich gemacht worden. Vor Wochenfrist jedoch, auf einer Versammlung der Reformpartei „Wahl Rußlands“ in Sankt Petersburg, kündigte er überraschend an, diesen Job zu übernehmen.

Rußlands zersplitterte Reformkräfte, denen es vor den Parlamentschaftswahlen nicht gelang, ihre Kohorten zu sammeln, erweisen sich erneut als unfähig oder nicht willens, sich auf einen Präsidentschaftskandidaten aus ihren Reihen zu einigen. Vielleicht ahnt man in diesen Kreisen aber auch, wie wenig Chancen ein Kandidat ihrer Wahl hätte. Jegor Gaidar, Jelzins Reformarchitekt, Expremierminister und Vorsitzender von „Wahl Rußlands“, hatte mit Ausbruch des Tschetschenienkrieges seinem ehemaligem Dienstherrn die Gefolgschaft aufgekündigt. Noch kürzlich sah er keine Möglichkeit zu einem Ausgleich.

Die ehemaligen Reformer in Rußland sind zerstritten

Gaidar ist das Gewissen der Intelligenz, einer der wenigen untadeligen Politiker. Aber auch er kippte um. Die Angst im demokratischen Lager vor einer Machtübernahme der Kommunisten drängt alle zurück zu Jelzin. Auch Boris Fjodorow, ehemaliger Finanzminister, der sich von „Wahl Rußlands“ gelöst und eine eigene Partei („Vorwärts Rußland“) ins Leben gerufen hat, strebt zurück unter die Fittiche des Kremlherrn. Jelzin erweise sich immer dann würdig, „wenn eine ernsthafte Bedrohung auftaucht“, so sein Kommentar.

Auch kleinere Splittergruppen und bekannte Köpfe des liberaleren Spektrums scheinen in diese Richtung zu tendieren. Ein Kongreß, der eigentlich einen demokratischen Präsidentschaftsanwärter küren sollte, war für das Frühjahr angesetzt. Nun sieht es so aus, als würde man sich für das kleinere Übel entscheiden.

Eine Ausnahme macht Grigorij Jawlinski, die bekannteste Figur des demokratisch gesinnten Rußlands. Als einzige entschiedene Reformkraft zog seine Partei („Jabloko“) in die Staatsduma ein. In Meinungsumfragen liegt er mit elf Prozent Wählerzuspruch, nach dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei, Sjuganow, an zweiter Stelle, gefolgt von Nationalist Schirinowski und General Lebed mit neun Prozent. Erst dann ist die Reihe an Jelzin, dem Premier Viktor Tschernomyrdin mit sieben Prozent auf dem Fuße folgt.

Beobachter gehen davon aus, daß Jawlinskis Potential ausgeschöpft ist. Der Zuspruch vornehmlich aus den Reihen der Moskauer und Petersburger Intelligenz birgt kaum noch Wachstumschancen. Jawlinski versucht nach wie vor, Kandidat der Reformer zu werden. Doch die Vorbehalte ihm gegenüber lassen einen Erfolg eher unrealistisch erscheinen. Drang zur Macht, Freude an der Intrige, Selbstliebe und mangelnde Verläßlichkeit untergraben seine Aussichten. Zur Last gelegt wird ihm auch, die Einigung der Demokraten vor den Parlamentschaftswahlen aus Eigensucht hintertrieben zu haben.

Die Umfragen vier Monate vor dem Wahlgang dürften Jelzin alarmieren, wenn denn seine Entourage überhaupt derartig niederschmetternde Kunde zu ihm durchdringen läßt. Danach sieht es nicht aus. Jelzin gab sich auch gestern wieder siegessicher, als könne ihm keiner die Macht streitig machen. Wahrscheinlich trügt ihn das Gefühl nicht, insbesondere wenn sich die alten Weggefährten erneut hinter ihn stellen. Tschernomyrdins 7-Prozent-Anteil kann er jedenfalls für sich verbuchen.