Kritik ohne Konsequenzen

■ Boris Jelzin kritisiert die Regierung – und behält sie

„Es hätte schlimmer kommen können.“ Auf diese durchaus zutreffende Formel lassen sich die Worte reduzieren, die seine Mitarbeiter dem russischen Präsidenten Boris Jelzin für seine gestrige Adresse ans Parlament in den Mund legten, wohl hoffend, sie möchten noch bis zu den Präsidentenwahlen im Juni nachhallen.

Seit August 1991 hat sich Rußland unter Kämpfen immerhin vom Sowjetsystem zur parlamentarischen Demokratie gemausert, und neue Wirtschaftsformen tragen erste Früchte. Dabei waren die wenigsten Reformer Demokraten bis ins Mark. Daß Boris Jelzin selbst Fleisch vom Fleische der alten Nomenklatura ist, erwies sich im Umgang mit ihr als Stärke. Die Schwäche eines solchen Charakters zeigt sich, wenn er öffentlich auf die moralischen Maßstäbe pfeift, die er selbst einst setzte.

Wenn Jelzin heute die Meinungs- und Pressefreiheit als größte Errungenschaft seines Landes preist, so zeigt dies, daß er deren Wesen kaum begriffen hat. Sonst müßte er erklären, warum die Apparatschiks aus seiner Umgebung die Fernsehanstalten des Landes für jegliche Berichterstattung über ihre Cliquenwirtschaft administrativ schurigeln.

Wenn der Präsident rügt, die Regierung habe „jene Leute vergessen, die nur von ihrem Gehalt“ leben, und ihr dafür mit Absetzung droht, so fragen sich die BürgerInnen nur, ob denn er selbst in all den Jahren abgekoppelt von allen übrigen Herrschenden im luftleeren Raum schwebte.

Ebensowenig überzeugend dürften Jelzins materielle und Reformversprechungen für die Armee wirken. Zu oft hat der russische Präsident zuvor derartige Zusagen nicht eingehalten. Was aber die angedrohten personellen Konsequenzen betrifft, so wissen die RussInnen nur zu gut: Boris Jelzins Streben nach Macht verbietet es ihm, die anderen Hauptverantwortlichen in die Wüste zu schicken.

Ein entlassener Ministerpräsident Tschernomyrdin würde für ihn heute zum schärfsten Konkurrenten. Auf Verteidigungsminister Gratschow dagegen kann ein Präsident nicht verzichten, für den persönliche Treue alles bedeutet. Niemals könnte Gratschow zu einer Jelzin oppositionell gesonnenen Gruppierung überlaufen, denn keine von allen würde ihn je haben wollen. Barbara Kerneck, Moskau