■ Schöner Leben: Versehrten-Freuden
Auf nichts kann man sich in Unfallfragen mehr verlassen, als auf Schadenfreude. Ausgerutscht, runtergefallen etc.pp, witzetechnisch geben Kleinkatastrophen immer viel her. Da liegt er, rsp. liegt sie, verbunden und verpflastert, aufgeschürft und zusammengeflickt im Bettchen und muß zu allem Elend auch noch gute Mine machen. Süßsaures Lächeln nach außen, und nach innen der Groll: Soll doch der Gipsarm hinunterfahren auf die Spötter.
Aber nein, heißer Tip, das stumme Leiden ist gar nicht nötig. Es gibt ein viel probateres Mittel, den Regenschirm gegen den Hohn: Der Kranke muß ganz auf die Ekligkeit setzen. Das harmlos vorgetragene Geschichtchen, wie nach dem Unfall beispielsweise der Mittelhandknochen aus der Handfläche stak, reicht völlig aus. Da erstirbt dem gewieftesten Humoristen der Witz im Hals. „Ich glaub, mir wird doch schlecht.“ Klasse! Auch wenn es gar nicht so dramatisch ausgesehen hat, man muß nur auf das Bild von der Katastrophe setzen, das im Kopf entsteht. Versehrtenfreude Nummer eins: Spötter kontern. Sehr vergnüglich.
Aber damit geht der Spaß erst los. Klar, es bleiben ein paar ungelöste Probleme, gerade wenn die Funktionen der oberen Extremitäten per Schiene eher eingeschränkt sind: Brot schneiden – muß der Bäcker machen, die Wurst bleibt genauso in der Pellewie das Tomatenmark in der Dose, und die Jeans mit Reißver-schluß werden denen mit Knöpfen allemal vorgezogen. Gesund sein ist doch irgendwie besser, daran ändert auch der gelbe Schein nichts. Entschädigung bieten aber die Versehrten-Freuden Nummer zwei bis undsoweiter. Wäsche aufhängen – macht der liebe Mitbewohner. Schuhe einhändig zubinden – kann man vergessen, hält nur hundert Meter, aber dann gibt es immer einen netten Freund, der an die Kindergartenzeit erinnert. Die FreundInnen kommen, und die Versorgungslage mit Büchern, Fruchtsäften, Trost und guten Wünschen ist glänzend. Von den Einladungen zum Abendessen ganz zu schweigen.
Vorschlag zur Freundschaftspflege: Einfach mal vorstellen, der oder die hätte einen eingegipsten Unterarm, und dann die Schlüsse draus ziehen. Bringt die Menschen näher zusammen
Jochen Grabler
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