Die Vergangenheit überwinden

Gesichter der Großstadt: Otto Rosenberg überlebte Zwangsarbeit und Konzentrationslager, seine Familie wurde ermordet. Heute setzt sich der 68jährige für die Rechte der Sinti und Roma ein  ■ Von Dorothee Winden

Das Büro liegt etwas versteckt, kein Schild weist den Weg, und die Adresse soll geheim bleiben. Otto Rosenberg, der Vorsitzende des Landesverbandes deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg, ist lieber vorsichtig. „Im früheren Büro haben sie uns vor vier Jahren die Scheiben eingeschmissen.“ Es kamen auch Drohbriefe. „Verschwindet!“ oder „Wir kriegen Euch alle“, hieß es in den anonymen Schreiben.

Es ist Abend. Otto Rosenberg war den ganzen Tag unterwegs, zum Essen ist er nicht gekommen, ein Käsebrötchen muß reichen. Am Morgen hat der 68jährige vor Polizeischülern gesprochen. „Sehr interessiert“ seien die gewesen. Er habe ihnen geraten, „erst mal mit den Leuten zu reden“, wenn es Probleme gebe. Vorurteile abbauen und „meinen Leuten den Weg ebnen“, dafür setzt sich Rosenberg ein. Sinti und Roma würden in Behörden häufig herablassend behandelt. „Es gibt Sachbearbeiter, die glauben, sie können mit den Leuten umspringen, wie sie wollen.“ Die Beratungsstelle, die er vor drei Jahren aufgebaut hat und in der einer seiner Söhne arbeitet, wird täglich von einem guten Dutzend Menschen aufgesucht.

Daß Rosenberg heute bei der Schulung von Polizisten auftritt, ist ein Symbol für die Überwindung der Vergangenheit. Er verbindet damit die Hoffnung, daß sich das Geschehene nicht wiederholt. Rosenberg wird nie sein Entsetzen vergessen, das er empfand, als er als kleiner Junge 1938/39 miterleben mußte, wie Polizisten die Roma und Sinti des Sammellagers Marzahn in die Eisenbahnwagen verfrachteten. Die Züge rollten in die Konzentrationslager. Daß sich daran auch die Polizisten beteiligten, die ihm auch schon mal was zu essen zugesteckt hatten, zerstörte das kindliche Vertrauen in die Erwachsenen.

Bitter enttäuscht war er auch von Dr. Robert Ritter und Dr. Eva Justin. Die beiden Mitarbeiter des Reichsgesundheitsamtes führten im Marzahner Sammellager „rassenbiologische Forschung“ durch, die darauf abzielte, die „rassische Minderwertigkeit“ der Roma und Sinti zu belegen. Ihre systematische Erfassung war die notwendige Voraussetzung ihrer späteren Verfolgung und Ermordung. „Eva Justin war so freundlich“, erinnert sich Rosenberg. Die junge Frau mit den blonden, gewellten Haaren erkor den Jungen als ihre Hilfskraft. Rosenberg klebte Dias ein und durfte auch schon mal im Hause von Eva Justin übernachten. „Ich habe die Welt nicht verstanden“, sagt Rosenberg, als er später den wahren Zweck der „Forscher“ erkannte.

Mit vierzehn wurde Rosenberg zur Zwangsarbeit in den Rüstungsbetrieb Danneberg und Quandt in Lichtenberg verpflichtet. In der Spritzlackierei tauchte er die Kartuschen für U-Boote in Farbe.

Im Frühjahr 1943 wurde er nach Auschwitz verfrachtet. Mitte 1944 wurde er nach Buchenwald verlegt. Wieder mußte er Zwangsarbeit in der Kriegsproduktion im KZ Dora Mittelbau und Ellrich leisten. Im April 1945 wurde er nach Bergen-Belsen transportiert, wo er einen Monat später befreit wurde. Er ist der einzige Überlebende seiner Familie: Der Vater starb im KZ Bialystok, seine Mutter erlag 1952 nach langem Leiden den Folgen der Haft in den Konzentrationslagern.

Nach der Befreiung „hatte ich Haß im Herzen“, sagt Rosenberg. Daß er diesen Haß überwinden konnte, verdanke er seiner Frau und seinen sieben Kindern. Ein tätowierter Engel überdeckt die KZ- Nummer auf seinem Unterarm. „Ich wollte das Böse mit etwas Gutem versehen“, sagt Rosenberg dazu ohne Spur von Bitterkeit.

Nach dem Krieg verdiente Rosenberg sein Geld als Musiker. Der Gitarren- und Akkordeonspieler trat bei Hochzeiten und in Cafés auf. „Ich war ein sehr guter Sänger.“ Früher hatte er auch Geige gespielt, doch das ging nicht mehr, weil seine Hand im KZ schwer verletzt worden war.

Musik spielte bei den Rosenbergs eine große Rolle: In den siebziger Jahren gelang seiner Tochter Marianne Rosenberg der Durchbruch im Musikgeschäft. „Als Steppke nahm die Oma sie zur Heilsarmee mit“, erinnert sich Rosenberg. Als die kleine Marianne dort munter mitsang, bemerkte die Familie ihr Talent und meldete sie zu einem Nachwuchswettbewerb im Europazentrum an. Marianne wurde Siegerin. Fünfzehn Jahre lang managte der Vater die Tochter, „mehr schlecht als recht“, wie er heute bescheiden anmerkt.

Parallel dazu engagierte er sich politisch. 1970 gehörte Rosenberg zu den Mitbegründern der Cinti- Union Berlin. Seit 1982 ist er erster Vorsitzender des Vereins, der sich inzwischen in „Landesverband deutscher Sinti und Roma in Berlin-Brandenburg“ umbenannt hat. Rosenbergs größter Erfolg ist die Entschädigung für Sinti und Roma nach dem Berliner Gesetz über politisch und rassisch Verfolgte. 1989 wurde die bundesweit einmalige Regelung vom Abgeordnetenhaus verabschiedet.

Auch CDU-Politiker zollen dem Sozialdemokraten Rosenberg Anerkennung. Bundespräsident Roman Herzog lud ihn zum Neujahrsempfang ein, der frühere Innensenator Dieter Heckelmann berief ihn 1991 in den Beirat für die Anerkennung von Verfolgten des Nationalsozialismus. Rosenberg gilt als kompetenter Ansprechpartner, ob es um einen dauerhaften Stellplatz für Sinti und Roma oder um Gedenkreden geht. Dann redet der Mann, der sich selbst Lesen und Schreiben beigebracht hat, frei und eindringlich.

Da gibt es Anlässe, die seine unermüdliche Aufklärungsarbeit belohnen und seinen Optimismus bestärken. Die Lichtenberger Schüler Robert Schröder und Pierre Veenhuis beschäftigten sich im Rahmen des Schülerwettbewerbs Deutsche Geschichte mit den rassenbiologischen Gutachten des Reichsgesundheitsamtes. Dank ihrer Hartnäckigkeit wurde im Dezember 1995 auf dem Dahlemer Gelände des heutigen Bundesgesundheitsamtes eine Gedenktafel für Sinti und Roma eingeweiht. Da strahlte Rosenberg über das ganze Gesicht.