Hang zum Küchenpersonal

Stephen Frears erzählt die Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde aus der Dienstmädchenperspektive – „Mary Reilly“ (Wettbewerb)  ■ Von Anja Seeliger

London ist steinern, grau, naßkalt und dunkel. Die Dienstboten im Haus von Dr. Jekyll sind seit halb fünf Uhr morgens auf. Mary scheuert draußen die Eingangstreppe, die anderen machen Feuer, schleppen schwere Wasserkessel und die Köchin enthäutet einen zappelnden riesigen Aal fürs Mittagessen. „Ich begreife nicht, warum es so mühselig ist, einen einzigen Mann zu versorgen“, murrt das Hausmädchen Annie. Das Leben der Hausangestellten im London des letzten Jahrhunderts war unerfreulich hart. Um so überraschender ist die sanfte Höflichkeit, mit der der heimkehrende Dr. Jekyll Mary auf die Narben an ihrem Hals und den Armen anspricht. Freundlichkeit und Interesse des gnädigen Herrn erscheinen völlig unangebracht, und dann bricht auch noch das das verlegene Mädchen die Regeln: Sie verweigert Jekyll eine Erklärung. Am nächsten Tag ändert sie ihre Meinung. Ohne Pathos erzählt sie Jekyll, wie ihr betrunkener Vater sie als Kind mit einer Ratte zusammen in einen Schrank gesperrt hatte.

Stephen Frears Film „Mary Reilly“ ist eine Neuverfilmung von Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“, diesmal erzählt aus der Perspektive eines Dienstmädchens. Die Spuren, die Frears im ersten Drittel des Films legt, sind vielversprechend: Das Verhältnis zwischen Jekyll und Mary ist irritierend. Zwischen beiden entwickelt sich schnell eine große Intimität, die weniger auf Leidenschaft als Mitleid gegründet ist. Ein Mitleid, daß langsam aus einem gegenseitigen Erkennen erwächst. Und schon ist Mary in einer verzwickten Lage. Sie schämt sich des immer gehässiger werdenden Dienstbotenklatsches und wird doch immer stärker zu Jekyll hingezogen. Sie ist demütig in der Küche, aber bei Jekyll, der mit ihr spricht wie mit einem gleichgestellten Wesen, bringt sie den Mut auf, ihm auf gleicher Ebene zu antworten. Julia Roberts meistert zu Beginn dieses hin und her zwischen Mut und Demut bravourös, und John Malkovichs Sanftheit macht Dr. Jekyll von Anfang an zu einer tragischen Figur. Doch dann werden beide Schauspieler von ihrem Regisseur im Stich gelassen.

In dem Augenblick, als Jekyll sich in Hyde verwandelt, scheint Frears jedes Interesse an seinem Film verloren zu haben. Mit Hydes schwarzer Seele kann er überhaupt nichts anfangen. Was für ein spannender Film hätte das werden können, wenn Mary Mr. Hyde auf seinen Streifzügen durch die Nacht begleitet hätte. Aber Mr. Hyde erregt weder Angst noch Grauen. Er hinterläßt ein blutverschmiertes Laken und eine aufgeschlitzte Ratte. Er ist kaum weniger höflich als Jekyll. In dem Moment, als er über Mary herfällt, genügt ein Blick, um die Bestie zu besänftigen. Verschwunden ist die Frau, die kurz zuvor noch alle Möglichkeiten hatte, nicht nur Opfer, sondern auch Täter zu sein. Statt dessen sehen wir Florence Nightingale bei der Arbeit. Und auch der zunächst so vielvesprechende Hinweis auf die Ähnlichkeit zwischen Marys Vater und Hyde — Mary erzählt, wie ihr Vater ein Bein nachzieht und kurz darauf sieht man Hyde aus dem Haus hinken — verliert sich im Nichts.

Eine aufdringliche Musik versucht, den Zuschauer mit großem Getöse von dramatischen Ereignissen zu überzeugen, die nie stattfinden. Es wäre auch ohne die plumpe Orchestrierung ein mißlungener Film gewesen. Aber man hätte die sanfte Melancholie, die den Film im ersten Drittel auszeichnet, besser im Gedächtnis behalten.

„Mary Reilly“. GB, 109 Min, Regie: Stephen Frears. Mit Julia Roberts, John Malkovich, Glenn Close