Die Überlebende

■ Fotografieren, um sich am nächsten Morgen zu erinnern: Nan Goldins Selbstporträt "I'll be your mirror" (Forum)

Ein blaugeschlagenes Auge kann nur als Tattoo tragen, wer seine Kunstproduktion in der ganz klassischen Weise an Schmerz und Tod und so weiter gekoppelt sieht. In Nan Goldins mithilfe des englischen Filmemachers Edmund Coulthard gedrehtem Selbstporträt „I'll be your mirror“ wird diese Koppelung schon in Nans Wiege gelegt. Den Selbstmord ihrer achtzehnjährigen älteren Schwester führt sie auf das Leben in einer der Vorstädte Bostons zurück. Dort sei das Leitmotiv gewesen: „Laß es nicht die Nachbarn wissen“ und so habe ihr ganzes Denken die Frage umkreist, was in diesen Nachbarhäusern stattfinde — nichts Gutes ahnend, natürlich.

Um nicht ihrerseits Selbstmord begehen zu müssen, habe sie dann, als sie selbst achtzehn wurde, zu fotografieren angefangen, erst ihre Familie, dann ihre Freunde. Bedenke, daß du nicht sterben mußt, möchte man ihr zurufen, aber da hat dann schon die große Party begonnen, als die Goldin die Siebziger erlebt hat. Es erklingen Velvet Underground. Sie lebte in Boston mit einigen der ersten Drag Queens, sie teilten sich Liebhaber, Brot und Tisch, Bohemia am Strand. Porträts mit halbgeschlossenen Augen, Lederwesten, Gläsern. Die Frisuren deuten schon Desaster an: zerrauftes Haar, x- mal gefärbt, blonde Strähnen mit beim Heulen verschmierter Wimperntusche. Wenig Außenräume, viele hotelartig wirkende Räume mit Funzellicht, das an Kirchenkerzen erinnert und der Selbstzerstörungsorgie den sanften sakralen Glanz verleiht. „Viele Leute sagen, Fotografieren habe etwas mit Voyeurismus zu tun“, kommentiert Goldin aus dem Off. „Ich habe Fotos gemacht, um zu wissen, was die Nacht zuvor passierte.“ Ende der Siebziger entstand aus diesen Arbeiten ihre Sammlung „The Ballad of Sexual Dependency“, aus der die bekanntesten Goldin-Fotos, vor allem ihre zerschlagenen Selbstporträts stammen.

Als die Party in den Achtzigern dann anfing vorbeizusein, wollte Goldin nach eigenem Bekunden noch immer weiter feiern — aber da blieb nur noch die Reha-Klinik. Als sie wieder rauskam, hatte Aids in New York schon in einem Ausmaß gewütet, das für sie zunächst völlig unbegreiflich war. Noch während der Produktion des Films starben einige der Protagonisten, und jetzt geht es beim Fotografieren mehr um Freundschaft: Leute festhalten. Alle haben plötzlich auch ein Tagesleben, dessen Licht natürlich eine völlige Veränderung von Goldins Ikonografie verlangt. Mariam Niroumand

„I‘ll be your mirror“. GB 1995, 50 Min, Regie: Nan Goldin, Edmund Coulthard

Heute um 19.90 Uhr in der Akademie der Künste