: Die hohen Kosten, sich arm zu stellen
Indien ist empört über den neuesten Bestechungsfall, in den die gesamte politische Klasse verwickelt ist. Diese ist Opfer ihrer eigenen Heuchelei: so zu tun, als lebte sie, inmitten einer Welt von steigenden Kosten, in edler Armut ■ Aus Delhi Bernard Imhasly
„Join the Hawala Party!“ ist nicht eine Einladung zu einem Tanzabend, sondern die Aufforderung an indische Politiker, sich einer neuen Partei anzuschließen. Bedingung für die Mitgliedschaft: absolute Skrupellosigkeit und Korruptheit. Kein Hindernis für die meisten indischen Politiker, meint Parteigründer Jaspal Bhatti, der Leuten, die noch verbleibende Gewissensbisse haben, Nachhilfekurse anbieten will. Dort sollen Preislisten auswendig gelernt werden, in denen für jede öffentliche Dienstleistung der genaue Schmiergeldbetrag festgelegt wird.
Damit kann die Hawala-Partei ein Regierungssystem mit totaler Transparenz garantieren. Für Unbelehrbare sieht Bhatti ein Sozialhilfesystem vor, das diesen Sonderlingen den Status einer gefährdeten Tierart gibt und sie in Gehegen der neugierigen Öffentlichkeit zur Schau stellt.
Seitdem der Hawala-Skandal an die Öffentlichkeit geraten ist, können Karikaturisten und Satiriker wie Bhatti aus dem vollen schöpfen. Denn die angeblichen Schmiergeldzahlungen eines Geschäftsmanns aus Delhi von rund 600 Millionen Rupien (über 30 Millionen Dollar) an insgesamt 115 Politiker und Beamte bestätigen jedem Inder, daß die Volksvertreter in diesem Beruf nur eine Quelle der Bereicherung sehen.
„Hawala“ heißt soviel wie „Garantie“ oder „Versprechen“: Man bezahlt einem Schwarzgeldhändler Rupien, und er verspricht, den Gegenwert in Dollars im Ausland auszuzahlen; oder man zahlt Dollars im Ausland und erhält die Rupien in Indien vergütet. Es war ein System, das bis 1991 Hochkonjunktur hatte, solange die Regierung nämlich ihre strikte Devisenbewirtschaftung betrieb. In der Regel konnte jeder Inder, der ins Ausland fuhr – zum Studium oder in die Ferien oder fürs Geschäft – legal nur 500 Dollar ausführen. Da aber nicht jeder einen reichen Onkel in Amerika hat, mußten sich die meisten auf dem Schwarzmarkt mit Dollars versorgen.
Wer nicht das ganze Geld ausgab, richtete sich im Ausland ein Konto ein. Bald hatten Millionen von Indern illegale Konten, die überdies durch ein weiteres probates Mittel des illegalen Geldexports alimentiert wurden: Exportrechnungen wurden unterfakturiert, so daß nur ein Teil der Bezahlung nach Indien überwiesen wurde – der Rest blieb im Ausland. Noch einfacher war es mit den „Kommissionen“, mit denen sich ausländische Firmen für erhaltene Aufträge bedankten. Der Anteil an den Mittelsmann floß direkt auf ein – meist schweizerisches – Bankkonto. Der Hawala-Markt ist geschrumpft, seit die Wirtschaftsreformen den Geldverkehr liberalisiert haben und nicht für jede wirtschaftliche Tätigkeit eine Lizenz benötigt wird. Doch der Bedarf an „Number Two Money“ für ein politisches System, das weitgehend auf der Vortäuschung des Armseins gebaut ist, blieb.
Schon die Order, im Ausland nicht mehr als 500 Dollar ausgeben zu dürfen, war der Ausfluß der scheinheiligen Fiktion, daß ein Angehöriger eines armen Landes wie ein Bettler durchs (Aus-)Land zu pilgern hatte, wenn er schon auf dem Luxus einer Auslandsreise bestand. Der für solche Gesetze verantwortliche Politiker muß sich entsprechend verhalten: Reichtum zeigen ist verpönt – je ärmlicher er daherkommt, je mehr er dem Urvater Mahatma Gandhi gleicht, desto höher ist sein Kurswert. Aber bereits über Gandhi hatte dessen Mitstreiterin Sarojini Naidu gestöhnt, wie teuer es die Partei zu stehen komme, den Mahatma arm zu halten. Zum Armutsgelöbnis gehört bis heute die Fiktion, für die Finanzierung des Wahlkampfs genügten 300.000 Rupien, umgerechnet rund 10.000 Dollar. Inzwischen deckt dieser Betrag nicht einmal mehr die Benzinkosten für die eingesetzten Jeeps. Ein Wahlkampf kostet heute jeden Kandidaten 30 Millionen Rupien.
Wie man das Geld wieder ins Land schleust? Durch Kuriere oder indem man die Exportrechnung fälscht: Statt daß für 5.000 Sandalen 7.000 Dollar verrechnet werden, steht das Dreifache auf der Faktura. Der transferierte Mehrbetrag stammt nicht vom Sandalenimporteur, sondern aus einem Geheimkonto. Weil es Schwarzgeld ist, kann es in die Wahlkasse fließen, in einen Spitalbau – oder in die lukrative Bodenspekulation.
Die Öffentlichkeit hat für die berechtigte Notlage auch von ehrlichen Politikern wenig Mitgefühl: „Sab chhor hai“ – „Sie sind alle Diebe“ – ist die Standardreaktion des kleinen Mannes. Was seinen Zorn zur Weißglut bringt, ist die Tatsache, daß die meisten Politiker ihre Bestechlichkeit hinter einer Fassade asketischer Selbstgenügsamkeit verbergen.
Doch in einem Land, in dem immer noch Hunderte von Dienstleistungen durch schlechtbezahlte Staatsdiener erbracht werden, ist Jeder ein Opfer – und wird zum Täter. Indem er hier ein paar Rupien springen läßt, damit das Telefon repariert wird, dort ein Trinkgeld gibt, damit der Stromzähler abgelesen wird (sonst erhält er eine überhöhte Pauschalrechnung), festigt er eine Einstellung, die in der doppelten Entlohnung den Normalfall sieht. Von da ist es nur ein Schritt zur aktiven Bestechung: eine Note im Paß, um eine hohe Zollschätzung zu vermeiden, ein Hunderter jeden Monat, damit der Gerichtsdiener die unangenehme Strafklage des Nachbarn immer schön zuunterst läßt.
Der Hawala-Skandal gibt damit wieder einmal Anlaß zur Gewissenserforschung. Liegt im hinduistischen Wertsystem, das nicht in absoluten Kategorien von Gut und Böse denkt, eine besondere Anfälligkeit für Korruption? Hatte nicht Kautilya, dieser indische Machiavelli, bereits im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung seinem Prinzen Chanakya abgeraten, Korruption als etwas Unmoralisches anzusehen? Hatte er nicht kühl die vierzig Arten aufgezählt, wie dies zu welchem Zweck zu bewerkstelligen war? Ein Kommentator der Tageszeitung Pioneer wandte immerhin ein, daß bereits die aufrechten britischen Kolonialbeamten sich bereichert hatten. Er zitiert Warren Hastings, der deswegen seines Postens als Gouverneur der East India Company enthoben wurde und der sich mit der Bemerkung verteidigte: „Angesichts der vielen Gelegenheiten bin ich erstaunt über meine Mäßigung.“
Ein Blick über die heutigen Grenzen zeigt dem Inder, daß selbst Gesellschaften mit relativ gut etablierter Trennung von Gut und Böse – Frankreich, Italien, Japan, Korea – mit ihren Bestechungssummen das arme Indien schon wieder in den Schatten stellen. Das schönste Kompliment kommt aber vom ungeliebten pakistanischen Bruder. Dawn, die führende Zeitung aus Karachi, war ganz erstaunt über die Aufregung jenseits der Grenze: „Dreißig Millionen Dollar, geteilt durch eine große Zahl von Politikern und über vier Jahre verteilt – in Pakistan ist dies Kleingeld, das in einem einzigen Geschäft die Hand wechseln kann.“
Es ist nicht anzunehmen, daß sich der Bürger, der in einigen Monaten an die Urne gehen wird, davon beeindrucken läßt. Bereits 1989 büßte Rajiv Gandhi etwa zweihundert Parlamentssitze ein, weil Korruptionsverdacht an ihm hängenblieb. Diesmal allerdings stecken die Wähler in einem Dilemma: die verdächtigten Politiker stammen aus allen großen Parteien. Hinter dem sarkastischen Vorschlag zur Gründung einer „Hawala Party“ steckt auch die Einsicht in die Ausweglosigkeit des gegenwärtigen Systems.
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