Das Portrait: Die Unermüdliche
■ Anna Larina
Anna Larina Foto: taz-Archiv
Es ist der 27. Februar 1937. Der sowjetische Revolutionär und marxistische Theoretiker Nikolai Iwanowitsch Bucharin weiß, daß er von der ZK-Sitzung nicht mehr zurückkehren wird. Zwei Dinge hinterläßt er seiner Frau, Anna Larina, als politisches Vermächtnis: Ihren gemeinsamen Sohn als Bolschewiken zu erziehen und keine Zeile seines Briefes „An eine künftige Generation von Parteiführern“ zu vergessen. Zu diesem Zeitpunkt ist Anna Larina, die in einer bolschewistischen Familie aufwuchs, 23 Jahre alt und seit drei Jahren mit Bucharin verheiratet. Bereits seit ihrem elften Lebensjahr sei er ihr Ideal gewesen, wie sie später einmal in einem Interview bekennt.
1938 wird Bucharin nach einem kurzen Schauprozeß als „Rechtsabweichler“ verurteilt und hingerichtet. Da sitzt Anna Larina bereits zusammen mit 4.000 Frauen im Arbeitslager in Tomsk. Nach 20jähriger Verbannung kommt sie 1959 wieder zurück nach Moskau. 1961 übergibt sie Chruschtschow, den sie verehrt, „weil er Millionen Gefangenen das Leben gerettet hat“, den Brief. Chruschtschow verspricht ihr die Rehabilitierung, doch dazu kommt es in Folge seines Sturzes nicht. Viele Jahre lang nicht, in denen sich Anna Larina unermüdlich für dieses Ziel einsetzt.
1988, als Bucharin offiziell dann doch rehabilitiert wird, schreibt sie an Gorbatschow: „Es hat mich große Mühe gekostet, den Text von N. I. Bucharins Brief im Gedächtnis zu bewahren. Ich möchte gern glauben, daß Sie die künftige Generation sind.“
Im Herbst desselben Jahres reist sie zur Biennale in Venedig, wo der Bucharin- Film „Lieber Gorbatschow“ von Carlo Lizzani gezeigt wird. Dort wird sie stürmisch gefeiert. Über den Film sagt sie: „Ich habe zwar einige Vorbehalte, aber das ändert nichts an seinem ästhetischen Wert und seiner positiven Wirkung.“
Im Oktober druckt die Zeitschrift Snamia ihre Erinnerungen ab. Ein Jahr später reist sie zur Frankfurter Buchmesse, um dort die deutsche Fassung ihrer Memoiren unter dem Titel „Nun bin ich schon weit über zwanzig“ vorzustellen.
„Ich wußte, daß eines Tages jemand die Stimme der Wahrheit hören würde. Ich wußte nicht, daß er Gorbatschow heißen würde, aber ich hoffte, lang genug zu leben, um das noch sehen zu können“, sagte Anna Larina einmal. Dieser Wunsch hat sich erfüllt. Am vergangenen Samstag starb sie im Alter von 82 Jahren in Moskau. Barbara Oertel
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