„Torsten darf sogar meine Katzen hauen“

Sie ersticken in ihrer Wut und in zuviel Verantwortung. Sie fühlen sich vernachlässigt und zu kurz gekommen. Geschwister von behinderten Kindern brauchen Hilfe – wie im Bremer Niels-Stensen-Haus  ■ Von Silvia Plahl

„Mich ärgert, daß meine Eltern Torsten lieber haben, nur weil er behindert ist. Der darf alles, sogar meine Katzen hauen. Dann kommt der in mein Zimmer, wirft die Legosteine rum, und wenn ich ihn rausschicke, weint er, und ich bin die Dumme.“ Auf kleine Zettel haben die Kinder geschrieben, was sie quält. „Die Eltern haben Fabian beim Rodeln geholfen, mir nicht, sie haben nur gesagt: ,Bei dir ist das was anderes.‘“ – „Elaine kriegt ihre Wutanfälle, zerreißt meine Bilder, und ich muß das verstehen.“

Elaine ist zehn Jahre alt, hat immer wieder epileptische Anfälle. Elaine ist die Schwester von Anne (12). Wie Anne sind alle hier in der Runde Geschwister von behinderten Kindern. Die „Geschwisterkinder“ sind für ein Wochenende ins Niels-Stensen-Haus gekommen; hier in Lilienthal bei Bremen veranstaltet die Sozialwissenschaftlerin Marlies Winkelheide seit 13 Jahren Tagungen. Drei- bis fünfmal im Jahr lädt sie zusammen mit einer Therapeutin und zehn pädagogischen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen rund 30 Geschwisterkinder ein. Alter: zwischen sechs und sechzehn.

Bildungsarbeit für die Geschwister behinderter Kinder gibt es sonst nirgendwo in Deutschland. Die Probleme der Geschwisterkinder sind überhaupt erst in den letzten Jahren in der Behindertenpädagogik aufgetaucht.

„Diese Kinder sitzen zwischen allen Stühlen“, sagt Ursula Pixa- Kettner, Professorin für Behindertenpädagogik an der Bremer Uni. Oft werde sie von Kollegen gefragt, warum sie sich als Behindertenpädagogin mit Nichtbehinderten beschäftige. „Zum Zentrum der Behindertenpädagogik kann die Geschwisterarbeit natürlich nicht gezählt werden. Es wird immer eine Ergänzung bleiben.“ Trotzdem gewinne das Thema, auch auf wissenschaftlicher Ebene, an Bedeutung.

Das Thema der Tagung in Lilienthal heißt: „Ich bin nicht du – du bist nicht ich“. Eine Alltagserfahrung der Kinder. „Stimmt“, meint Patricia, 13. „Ich sag das oft zu meiner Mutter, wenn sie schimpft. Ich bin nicht mein Bruder, der liegt ja nur im Bett und kann nichts anstellen.“ David ist taubstumm.

Die Geschwisterkinder sprechen aus, was sie beschäftigt und bedrückt, spielen es in Rollenspielen nach. Sie sollen lernen zu verstehen und erleben, daß sie auch wichtig sind, daß es wichtig ist, was sie selbst tun, denken und empfinden. Demokratisch stimmen sie über alles ab, sogar über die Zeit des Zubettgehens: Die Kinder erfahren, daß ihre Stimme zählt. Denn zu Hause in der Familie kommen sie oft zu kurz, erhalten wenig Beachtung. Oft müssen sie viel im Haushalt mithelfen und sind gleichzeitig allein mit sich und ihren Sorgen. Ausgeschlossen auch dann, wenn das behinderte Geschwister wieder ins Krankenhaus muß, auf eine Station, wo man erst ab 14 Jahren zu Besuch kommen darf.

Im Niels-Stensen-Haus wird über das geredet, was sonst geschluckt wird. Johannes war schon „zehn- bis fünfzehnmal“ hier. Johannes' Schwester Dorothee ist acht und hat das Down-Syndrom. Früher dachte er, er sei der einzige mit einer behinderten Schwester, erzählt der Junge. „Jetzt weiß ich, hier werd' ich verstanden, hier kann man heulen ... Da lacht auch keiner.“

Sie habe sich oft mit Johannes' Eifersucht überfordert gefühlt, erinnert sich die Mutter des Zwölfjährigen. „Vor allem, als ich mit Dorothee zu Therapien gefahren bin, war er bei unserer Rückkehr ziemlich aggressiv.“ Die Mutter konnte ihren Sohn zwar verstehen, stand ihm aber hilflos gegenüber. „Und da find' ich es ehrlicher zu sagen: Vielleicht kann jemand anders helfen.“ Daß der Junge sein Problem nicht äußern konnte, belastete die Mutter sehr. Als Johannes zehn war, schickte sie ihn nach Lilienthal. Dort sei der Junge regelrecht aufgelebt. In den Augen der Mutter ist das eigentlich logisch; sie fährt selbst regelmäßig zu Elterntreffen ins Tagungshaus. Das Niels-Stensen- Haus ist wie eine kleine Insel für Geschwister und Eltern behinderter Kinder.

Den Kindern wird beigebracht, auch mal „nein“ zu sagen. Wenn zum Beispiel der Pflichtenberg für Pia so riesig groß wird, weil sie mit Mama und Rieke nun wieder alleine lebt. Pia muß das Essen kochen, Staub saugen, einkaufen gehen. Sie hat keine Zeit mehr für sich und ihre Hobbies.

Marlies Winkelheide und ihr Team ermuntern die Kinder, das den Eltern zu sagen, sich zu trauen, eigene Forderungen zu stellen. Denn Rücksichtnahme muß man den meisten Geschwisterkindern nicht mehr anerziehen. Sie versuchen eher noch, die Verzweiflung der Eltern aufzufangen. Beginnen sie dann in Lilienthal, sich ihre eigenen Freiräume zu erkämpfen, kann das für sie zu Hause schon mal zu einem Problem werden.

Eine Gratwanderung sei dies, ist sich Charlotte Knees bewußt, die als Therapeutin die Tagungen begleitet. „Die Kinder gehen nach einer kurzen Zeit zurück in den Alltag. Wir sagen ihnen, daß sie mit der Situation zu Hause leben müssen.“ Wenn jedoch offensichtlich sei, daß die Kinder die Behinderung der Schwester oder des Bruders überhaupt nicht thematisieren dürfen, nicht benennen dürfen, daß etwas anders ist – dann versucht das Team des Niels-Stensen- Hauses, mit den Eltern zu sprechen. „Da würde ja nie ein Jugendamt reagieren“, sagt Charlotte Knees.

Anne hat schon erlebt, daß nur die guten Freunde bleiben, wenn sie sich endlich getraut hat, ihnen zu sagen, daß Elaines epileptische Anfälle nie weggehen werden. Auch die Leute auf der Straße reagieren oft so auf die Behinderung, daß sie bei deren Geschwistern Wut und Ängste schüren. Da muß man sich wehren können.

„In der Schule, da will ja keiner was hören“, bemerkt Stefan. „Die bringen nur so blöde Schimpfwörter wie ,Spasti‘ oder ,Du bist ja behindert‘ oder ,Dein asozialer Bruder da im Rollstuhl‘ und wissen gar nicht, was das ist. Ich sag' denen, daß ihnen das auch passieren kann.“ – „Meine Schwester Dorothee sieht jünger aus, als sie ist. Ich laß' die Leute das glauben, sonst fragen die gleich so blöd ,Was hat sie denn?‘“ meint Johannes trotzig.

Langsam und zögernd würde sie von der Öffentlichkeit entdeckt, stellt Marlies Winkelheide fest. Nach 13 Jahren Tagungsarbeit werden die Lilienthaler nun auch von Bildungseinrichtungen in ganz Deutschland eingeladen. Marlies Winkelheide: „Drei bis vier schaffen wir im Jahr, zwanzig werden im Durchschnitt nachgefragt.“

Kindertagungen werden jedoch überhaupt nicht gefördert. Im katholischen Niels-Stensen-Haus kann man sich die Geschwisterkinder nur „leisten“, weil der Träger der Einrichtung sich an der Finanzierung beteiligt.

70 Mark Teilnahmegebühr bezahlen die Kinder für ein Wochenende. Das deckt bei weitem nicht die Tagungskosten, obwohl die MitarbeiterInnen nur 100 Mark bekommen und die Therapeutin für den 48-Stunden-Marathon 400 Mark am Tag. Drei Jahre lang hat zwischendurch die „Lebenshilfe Bremenä“ – ein vielseitig aktiver gemeinnütziger Bremer Verein „für Menschen mit geistiger Behinderung“ – die Geschwisterarbeit unterstützt.

Nachdem sie an diesem Wochenende alle ihre Sorgenpakete geleert haben, bekommen die Kinder zum Schluß die Aufgabe, einen Brief an eine außenstehende Person zu schreiben. Dieser sollen sie erklären, warum sie wütend sind, warum ihnen Gerechtigkeit so wichtig ist und daß dermaßen viel Verantwortung sie erdrückt. „Wie ist es in zwanzig Jahren, wenn meine Eltern nicht mehr alles für meine Schwester machen können?“ steht auf einem der Zettel. „Matthias muß mit seinen fünf Jahren so viel aushalten, jetzt kommt wieder eine Hüftoperation.“ – „Was wird Hanna machen, wenn sie groß ist (Führerschein, Haus bauen)?“ – „Es gibt ja keine Hoffnung.“

Von Marlies Winkelheide ist 1992 das Buch „Ich bin doch auch noch da – Aus der Arbeit mit Geschwistern behinderter Kinder“ erschienen. Trialog-Verlag, Bremen