■ Die deutsch-tschechischen Beziehungen sind in der Krise. Was Kohl in Moskau gelingt, bringt er in Prag nicht fertig
: Wahlkampfhelfer Helmut Kohl oder Der Kalte Krieg läßt grüßen

In das ferne verschneite Moskau zu eilen, um dem angeschlagenen Boris Jelzin, Tschetschenienkrieg hin, Tschetschenienkrieg her, Wahlhilfe zu leisten, fiel Helmut Kohl nicht schwer. Drei Wochen vorher, als sich der tschechische Ministerpräsident Václav Klaus in Bonn aufhielt, war ihm die Entfernung zwischen Schloß Petersberg und dem Kanzleramt viel zu groß.

Kohl hätte dort, nachdem die deutsch-tschechischen Gespräche über die gemeinsame Erklärung gescheitert waren, den Willen zur Verständigung mit dem Nachbarstaat manifestieren können. Für den Tschetschenienkrieger Boris Jelzin riskierte Helmut Kohl massiven Unmut der Öffentlichkeit. Für die Bewältigung der offenen Fragen im (sudeten)deutsch-tschechischen Verhältnis etwas zu leisten, war ihm der Preis – die Verärgerung der bayerischen CSU, die um ihre sudetendeutsche Wählerschaft bangt – bisher zu hoch.

Der Blick auf die Karte reicht für die erste Erklärung: Rußland ist groß, die Tschechische Republik klein. Danach richten sich die Präferenzen von Helmut Kohl. Sollen dies die europäische Politik und das europäische Demokratieverständnis sein? Fügt sich das in der tschechischen Optik nicht nahtlos in alle die Erfahrungen ein, die die Tschechen seit 1938 mit ihren großen Nachbarn gemacht hatten? Muß es das alles nicht noch viel mehr, seit der deutsche Bundeskanzler Verständnis für das im Wutausbruch vorgetragene Nein des russischen Präsidenten zur Osterweiterung des Nordatlantikpaktes zeigte, Verständnis für ein Nein also, das sich gegen ein vitales tschechisches (und polnisches) Interesse richtet?

Mit der Brüskierung des tschechischen Amtskollegen wie auch mit seinem Aussitzen der ungelösten Fragen in den deutsch-tschechischen Beziehungen, die er zur Chefsache erklärte, leistete Helmut Kohl allerdings auch eine Wahlhilfe: Für die tschechischen Kommunisten und Sládeks Rechtsradikale. Gerade für diejenigen Kräfte also, deren eventuelle Machtergreifung er durch die massive Unterstützung für den reformfreundlichen (?) Boris Jelzin in Rußland verhindern wollte.

Ein besseres Wahlthema als die deutsch-tschechischen Zwistigkeiten, historisch glaubwürdig und emotional beladen, können sich diese beiden Gruppen in der tschechischen politischen Landschaft gar nicht wünschen. Die zum groben Poltern neigenden Sozialdemokraten werden sich das Thema auch nicht entgehen lassen. Die von der Bundesrepublik immer noch nicht entschädigten tschechischen Opfer des Nationalsozialismus werden dafür genauso herhalten müssen wie die lebhaften Phantasien einer Europäischen Union unter deutscher Vorherrschaft.

Die „Erfolge“ dieser Art Wahlhilfe lassen sich inzwischen mit Zahlen belegen. Waren 1986 in einer von der Exilzeitschrift Svědectvi in der Tschechoslowakei geheim durchgeführten Umfrage nur 15 Prozent der Tschechen der Meinung, daß die Zwangsaussiedlung der Sudetendeutschen richtig war – und dieses Problem stellt den eigentlichen Knoten in den deutsch- tschechischen Beziehungen dar – sind es heute 66 Prozent, also zwei Drittel der Bevölkerung. Der Vergleich der beiden Zahlen straft alle diejenigen Lügen, die in der hohen Zustimmung zu der Vertreibung heute ein Zeichen des aufkommenden tschechischen Nationalismus, ja Chauvinismus sehen. Wenn in Tschechien etwas „aufkommt“, dann ist es vor allem die Angst vor den Unübersichtlichkeiten und Widersprüchen der deutschen Politik. Das nachlassende Vertrauen der Gegenseite schlägt sich, wie fast immer, in der Verhärtung der eigenen Positionen nieder.

Eigentlich hat die tschechische Seite bisher für die Bereinigung der historischen Hinterlassenschaften in der Beziehung zu den Sudetendeutschen mehr getan als die Bundesregierung und die sudetendeutsche Landsmannschaft zusammen. 1990 hat der tschechische Präsident Václav Havel die Vertreibung ausdrücklich bedauert. Von der sudetendeutschen Landsmannschaft war keine entsprechende Reaktion zu vernehmen, etwa, daß sie die verhängnisvolle Rolle, die die Sudetendeutschen 1938 durch ihre „Heim-ins-Reich- Bewegung“ im Vorfeld des Münchener Abkommens gespielt haben, ebenso bedauern würden. Auch der Vorschlag, den Sudetendeutschen, die von der Vertreibung betroffen waren, eine doppelte Staatsbürgerschaft zu garantieren, blieb bislang ohne jede Antwort.

Im Gegenteil: 1995 hat Präsident Václav Havel in seiner Rede auf diese kritischen Punkte der gemeinsamen deutsch-tschechischen Geschichte hingewiesen und hat die Vertreibung der Sudetendeutschen und das Münchener Abkommen 1938 in einen historischen Zusammenhang gestellt. Doch sofort wurde er gerügt, er sei zur Position der kollektiven Schuld der Sudetendeutschen zurückgekehrt.

Daß allerdings die Sudetendeutsche Landsmannschaft durch ihre Weigerung, sich mit dem politischen Versagen eines großen Teiles ihrer Volksgemeinschaft im Jahre 1938 auseinanderzusetzen, im Grunde genommen auf der Position der kollektiven Unschuld beharrt, ist bisher kaum jemandem aufgefallen.

Man müßte sich die Frage stellen: Was ist eigentlich die Diskussion um das Berliner Holocaust- Denkmal, was ist die Festlegung des Gedenktages der Opfer des Nationalsozialismus auf den 27. Januar, des Tages der Befreiung von Auschwitz, anderes als der Ausdruck dafür, daß die Deutschen für die Verbrechen und Untaten ihrer Vergangenheit Haftung übernehmen? Und das, obwohl die Mehrheit der heutigen Bevölkerung keine individuelle Schuld daran trägt. Die Haftung für ihren Teil dieser Geschichte zu übernehmen, dazu ist die sudetendeutsche Landsmannschaft nicht bereit. Von den Tschechen wird dies aber verlangt.

Statt über Ursachen und Folgen zu diskutieren, wird zum Schaden des deutsch-tschechischen Verhältnisses über Recht und Unrecht geredet, als wäre mit diesen Worten die Tragödie zu erfassen, daß das Zusammenleben zweier Völker in Böhmen gescheitert ist. Als könnte man durch das Aufstellen von immer neuen Forderungen jemals eine Versöhnung herbeiführen. Helmut Kohl, der sich gern als Historiker fühlt, schaut zu. Der Kalte Krieg läßt grüßen. Alena Wagnerová